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Peter Wagner: Kreuzigungen. Ein Triptychon
Roman in drei Richtungen

Edition Marlit, 2013
509 Seiten / Hardcover
ISBN: 978-3-902931-00-9
Preis: EUR 29,90

In den drei Teilen des Romans begegnet man dem jeweiligen Ich-Erzähler am Höhepunkt einer (Lebens)Krise. Die Männer sind unterschiedlichen Alters und haben von ihren Lebensentwürfen her zunächst wenig miteinander zu tun. Der eine führt ein erfolgreiches Unternehmen als Manager im Kulturbetrieb, der andere blickt als alter Mann auf seine Jahre als Erzbischof und Kardinal zurück, der dritte steht als junger Rechtspopulist vor einem unverhofften Karrieresprung, nämlich direkt an die Spitze seiner Bewegung. Gemeinsam ist ihnen, dass sie, jeder in seinem speziellen Umfeld, Protagonisten eines Selbstverständnisses sind, dessen ideelle, bis dahin nicht in Frage gestellte Fundamente durch ein scheinbar individuelles Fehlverhalten, durch einen vermeintlichen Schicksalsschlag oder eine plötzliche Krankheit eine traumatische Umkehr erfahren. Wie bei einem Triptychon öffnen sich die Seitenteile zu einem Innenleben, das den Helden selbst bis dahin nur von seiner äußeren Seite her bekannt war, und legen den Blick frei auf etwas, das ihnen fremd, unheimlich, monströs, jedenfalls aber unvorbereitet daherkommt. Das vermeintliche Opfer, das sie angesichts der Fremdheit der sie bedrängenden Mächte und Schicksalsregungen bringen und das sie als eine Art Kreuzigung erleben, entpuppt sich letztlich als Selbstkreuzigung und –geißelung: Der vielleicht schmerzenden, am Ende heilvollen Einsicht in die eigene Getriebenheit im Rahmen gesellschaftlich fixierter Muster wird nur partiell oder gar nicht Raum geschaffen; es überwiegt die martialischen Attitüde, in der man sich selbst als Opfer widriger Umstände und feindseliger äußerer Bewegungen einrichten kann. Letztlich existiert Freiheit sowohl in hündischer Unterwerfung als auch in analog dazu entwickelter Hypertrophie, die Würde sowohl in der Leugnung individuellen Anspruchs als auch in anmaßender Selbstüberhöhung, Daseinserfahrung sowohl in persönlichkeitsfremden Leitbildern als auch in der Melancholie gescheiterter Entwürfe, Erlösung sowohl in aggressiver Handhabung der Macht als auch in autoaggressivem Selbstmitleid.

Wallfahrt Plaque Narbenfleisch
Eine Zurichtung

Ein erfolgreichen Unternehmer im Kulturmanagement hat, scheinbar unmotiviert, alle Zelte in Wien abgebrochen und eine Reise nach und durch Mexiko angetreten. Er hat rund um seinen Fünfziger mit einer mysteriösen Krankheit Bekanntschaft gemacht, die die Schulmedizin als „Induratio penis plastica“ kennt, ohne jedoch auch nur über einen Ansatz von Therapie zu verfügen. Es handelt sich dabei um eine Erkrankung des männlichen Genitals, bei der das Immunsystem des Körpers Zellen irrtümlicherweise als krank identifiziert und - in einem teilweise schmerzhaften Prozess - gesundes in fibros verplacktes Gewebe umwandelt. Impotenz ist zwar nicht zwingend die Folge des Krankheitsverlaufs, dennoch plagen den Betroffenen Gefühle einer schleichenden Kastration.
Nach einer Reihe von medizinischen Untersuchungen und erfolglosen Behandlungen sieht er für sich nur noch die Möglichkeit zur Flucht: Warum er dabei erneut in Mexiko landet, ist ihm zunächst selbst nicht ganz klar. Die Begegnung mit dem teilweise heidnisch anmutenden Marien-Kult im zentralmexikanischen Wallfahrtsort Pátzcuaro führt zunächst in eine schmerzhafte Hinterfragung all seiner bisher gepflogenen Selbstverständnisse als Mann und Mensch, die zusätzlich durch suggestive Elemente eines vermeintlich naiven Volksglaubens vorangetrieben wird. Tatsächlich aber muss er in sich ein Geheimnis aufbrechen, das ihn seit vielen Jahren an ein tödliches Geschehnis in einer Bucht am mexikanischen Pazifik bindet.

Wie waren wir glücklich beim Federballspiel
Eine Hinrichtung

In einem Kloster in Bayern hält man ihn gefangen, den Kardinal und Erzbischof, der von seinen Schülern im Seminar die Kardinälin genannt wurde, weil er gewichste, knarrende Schnürstiefel wie die Oberin zu tragen pflegte. Zeitlebens hat er sich durch die Gründung immer neuer Klöster der Marienpflege gewidmet und sich darin große Verdienste erworben, die aber ideologisch gezielt der Unterordnung der Gottesmutter unter den Allmächtigen dienten. Immerhin hat seine missionarische Arbeit letztlich zur Weihe zum Erzbischof von Wien geführt. Und dann ist eines Tages ein ehemaliger Zögling an die Öffentlichkeit getreten und hat diese garstigen Behauptungen aufgestellt, er sei als Kind von der Kardinälin sexuell missbraucht worden. Nun, da die Kirche und ein treuloser Papst ihn, der sich das Schweigen darüber zum Gesetz gemacht hatte, fallengelassen haben – was man aufgrund seiner guten Beziehungen lange Zeit nicht zu tun gewagt hatte -, wird er all seinen Hass auf die Verschwörung, ja: der Mütter und Frauen los, in einem Rollstuhl gefesselt und im Zug eines offenen Fensters stehengelassen.

Träumen in gefesselter Geilheit
Eine Herrichtung

Ob er das Schussattentat überleben wird, der rechtspopulistische, noch immer in der Wohnung seiner Mutter lebende und zum Spitzenkandidaten des „Sektors“ gekürte Jungpolitiker Emil Pilaster, ist nicht abzusehen. Während die Kugel im Bruchteil einer Hundertstelsekunde sich Bahn durch seine Brust bricht, knapp an seinem Herzen vorbei, und Kurs auf sein Rückgrat nimmt, sucht ihn ein verwirrendes Kaleidoskop monologisch geführter Dialoge heim: Sowohl reale Personen seines politischen Werdeganges als auch fiktive Fratzen tief in ihm verankerter Schemata treten an ihn heran und konfrontieren ihn mit den mannigfachen Facetten seiner Unfähigkeit, sowohl die praktischen Dinge des Lebens in die Hand zu nehmen als auch seine zunächst homoerotisch geprägte Sexualität zu verstehen. Nach einem Übergriff auf eine Mitarbeiterin, die selbst unter einem traumatischen, lange Zeit aber nicht offenkundigen Missbrauch in ihrer Kindheit leidet, geraten seine emotionalen Wirrnisse völlig außer Kontrolle: Er, den sein Mentor und geistiger Führer MK einen „phlegmatischen Schwärmer“ genannt hat, wird in einem quasi komatösen Zustand Medium eines Redeschwalls, den er ebenso wenig zu steuern imstande ist wie die vielen verdeckten Antriebe, die eine Unterscheidung von realem und traumatisch fantasiertem Erlebnis immer schwieriger macht. Übrig bleibt das gespenstische Schemen eines mit wenig eigener Substanz behafteten Lebens, das sich im Versuch der Selbstüberhöhung in Machtfantasien und mannigfache Spielvarianten der Selbstzerstörung begibt.

Interview mit Peter Wagner

Auszug: Interview per Mail-Verkehr. Fragen: Wolfgang Huber-Lang / apa

Wie kam es zu der Wahl der drei Protagonisten Ihres Romans – sind es Archetypen, oder gehen sie auf konkrete Vorbilder zurück? Wieviel Autobiografisches steckt drinnen?

Die Protagonisten in "Kreuzigungen. Ein Triptychon" gehen sehr wohl auf konkrete Vorbilder zurück, werden aber im literarischen Schreibprozess so oder so zu Archetypen. Das passiert auch mit dem sog. Autobiografischen: Die Schilderung des eigenen Schicksals wäre mir in diesem Prozess zu wenig bzw. zu wenig weitläufig, ist es doch gerade im bewussten Verweben mit anderen Schicksalen höchst interessant, das Eigene neu und auch teilweise völlig anders zu erfahren. Im ersten Teil des Triptychons war das der Fall. Bei den beiden anderen Teilen nahm sich das schon wesentlich schwieriger und problematischer aus: Was hat ein abgehalfteter Kardinal, der sich plötzlich mit dem Vorwurf des Missbrauchs an seinen Zöglingen konfrontiert sieht, oder ein junger Rechtspopulist, der mit Hilfe seines Mentors eine steile Karriere macht, obwohl er noch immer sein Kinderzimmer bewohnt, mit mir, dem Autor Peter Wagner, zu tun? Und doch waren auch diese beiden Erzählungen eine Entdeckungsreise durch das eigene Ich, in dem man unerwartet Seiten von sich aufstöbert, die alles andere als bequem und von einem moralisch einwandfreien Standpunkt her zu betrachten sind. Da ja alle drei Protagonisten aus der Ich-Perspektive erzählen, haben sich diese Reisen in teilweise ziemlich abenteuerliche und abgründige Grenzgänge meiner Psyche verwandelt.

Und: Hat das Religiöse für Sie in Ihrem Leben mehr oder weniger Bedeutung erhalten?

Das weiß ich nicht. Ich weiß einerseits heute nicht mehr genau, was ich bis hierher immer genau zu wissen glaubte, dass ich nämlich im Alter von etwa 16 Jahren meinen katholischen Glauben verloren hätte. Eine gewisse Prägung bleibt einem ja dennoch erhalten, selbst wenn man sich selbst als Atheisten sieht, später vielleicht als Agnostiker. Die Begegnung mit dem Katholizismus lateinamerikanischer, speziell mexikanischer Prägung vor über zwanzig Jahren hat mich allerdings ziemlich umgeworfen, und ich beschreibe das ja auch im Triptychon. Ob ich dadurch religiöser geworden bin, weiß ich nicht, sicher aber hat das Religiöse als Menschenheitsphänomen dadurch eine Aufwertung in meinem Leben erfahren. Ich bin nach wie vor Mitglied der katholischen Kirche, an deren Zertrümmerung ich lange Zeit irgendwie mitzuarbeiten versucht habe. Heute sehe ich allerdings eine höchst interessante und spannende Entwicklung, die einerseits etwas mit Franziskus zu tun hat, mehr aber noch mit den vielen Menschen, die diesen reformunwilligen Kirchenkomplex mit Beharrlichkeit und Verstand, und ja: auch mit religiöser Hingabe zu biegen versuchen – und u.U. näher dran sind, es zu schaffen, als man befürchten möchte.

 

Siegmund Kleinl
Notizen zu Peter Wagners „Kreuzigungen. Ein Triptychon. Roman in 3 Richtungen“

Der Autor ist in diesem Werk über sich hinausgewachsen. Heißt es nicht selten, wenn ein Buch beworben wird. Bei Peter Wagner ist es umgekehrt. Er ist in seinem Roman „Kreuzigungen“ in sich hineingewachsen. In die unerforschten Ebenen, Wälder, Berge, Höhlen in sich, hat darin vielleicht auch einen Spalt offenen Himmels entdeckt. Die Frau: Himmel, Höhle und Hölle in einem. Die Frau brennt in dem Protagonisten, und es ist – auch wenn die Ich-Figur eines Romans nicht mit dem Autor gleichzusetzen ist - gewiss auch das Feuer im Autor, Fegefeuer, das ihn ausbrennt, aber nicht kalt lässt. Trotz des Eiszapfens zwischen den Beinen im ersten Teil, der phallischen Verklemmtheit im mittleren Teil des Triptychons – formal eingeklemmt zwischen zwei gewaltigen Seitenflügeln – und der Impotenz eines von Omnipotenz träumenden Gefesselten im dritten Teil. Gefesselt wovon? Von der Geilheit? Der sexuellen Geilheit der Macht? Der Machtgeilheit der Sexualität? Es ist notwendig, in sich hineinzuwachsen, damit alles, was aus einem herauskommt, durch Verleiblichung seine Beglaubigung erfährt. Beglaubigung ist dann auch ein Wort, das einige Male, an besonders verdichteten Stellen des Romans, aufscheint, als Vorschein der ganzen Wahrheit.

Über das Leitmotiv Wahrheit hinaus, gibt es eine Reihe von Begriffen, die wie Schnittlinien die Motive, die den Roman durchziehen, bündeln. Schnittpunkte, die Kreuzungen sind und als solche auf Kreuzigungen, den Titel des Romans verweisen. Ein Motiv ist das Zittern. Es zittern die Hände des Protagonisten im ersten Teil. Sie zittern, als hätten sie Angst vor dem Handeln. Oder auch davor, festgenagelt zu werden. Woran? Am Holz-Weg ihres Tuns. An dem, was sie an sich getan, mit sich angefangen haben und mit anderen. Den Lebensweg des Ich-Erzählers kreuzen andere Biographien. Diese Kreuzungen sind wie der Kelch, den man hofft, nicht trinken zu müssen, gehen aber nicht an ihm vorüber. Aber das Trinken beruhigt auch, selbst wenn man hinterher nicht mehr findet, was einem gehört. Was gehört uns? Wovor haben wir Angst? Angst, es zu verlieren? Der Erzähler, der seine Geschichte schonungslos offenlegt, sagt es uns: Es ist die Angst vor dem Verlust der Phalllust. Kurz: Phalllustangst. Zittern die Hände davor? Zittern sie deswegen, weil schon verloren ist, womit der erfolgreiche Kulturmanager Felix Zellwecker, Hauptakteure des ersten Teils, als junger Mann einst prahlte? Die Macht des Mannes, in Gestalt seines Gemächts sichtbar gemacht, verliert sich im Zittern vor der mächtigen Frau, der alles beherrschenden und in sich verschlingenden Weiblichkeit. Das Weibliche zieht uns hinab, nicht hinan, wie Goethe am Ende seines Faust monierte. Denkt Zellwecker. Erlebt es als Kreuz. Das Kreuz erinnert an das biologische Zeichen für weiblich: das Plus unter dem Kreis. Für das Männliche steht der nach oben gerichtete Pfeil auf dem Kreis, der an einen Pfahl erinnert. Wie aufgepfählt auf dem vereisten Penis zwischen den Beinen sucht der Protagonist nach Befreiung, Heilung, Erlösung. Los von der Über-Macht der Frau muss er kommen. Deshalb hat Zellwecker sie getötet. Glaubt Pilaster, der Protagonist des dritten Teils, sie töten zu müssen. Ist das Töten die Lösung für das Kreuz, das Mann und Frau einander sind?
Ein wesentliches Motiv des Romans, das explizit an einigen Stellen des Textes genannt wird, ist das Mysterium. Das Wort Mysterium verweist einerseits auf Geheimnis, andererseits auf Heil oder Heilserfahrung. Dem griechischen Wort Mysterion entspricht lateinisch Sacramentum. Die Sakramente wiederum sind Zeichen des Heils und stehen an Lebenswenden als Immunisierungsmedien. Bei Sloterdijk heißen diese Immunräume Sphären. Sie treten in Gestalt von Blasen, Kugeln und Schäumen auf. Im Wesentlichen geht es immer um Rückbezug zur schützenden Ursphäre, dem Uterus. Die Sphäre, die Kugel, die Mutter, die Frau: Es ist immer das Runde, aus dem alles hervorgeht und wohin alles wieder zurückkehrt. Aus dem Ganzen ins Gebrochene zum Vollkommenen. Vom Gebrochenen erzählt der Roman. Von Erfahrungen des jungen Felix, die in sein Leben einbrechen wie Diebe, ihn verletzen, verwunden, geißeln, ihn zurichten für die Kreuzigung. Er ist vergleichbar mit Parzival, dem tumben tor, der von der Welt nichts weiß. Er weiß deshalb auch nicht zu fragen nach Schmerz und Leid, hält dich bloß an die gängigen gesellschaftlichen Verhaltensmuster, die ihm Erfolg und Karriere versprechen. Wer ein äußeres, den Gesetzmäßigkeiten des Erfolgs gehorchendes Gelingen des Lebens anstrebt wie Felix Zellwecker, wird die Frage nach den leidvollen Tiefen der menschlichen Existenz nicht stellen und demnach erfolgreich scheitern. Das Symbol für das Scheitern in einer christlich geprägten Kultur ist das Kreuz. Felix, der Glückliche, scheitert daran, dass er lange keine Zweifel aufkommen lässt an der Richtigkeit seines Handelns, das nur eine Richtung kennt: geradeaus zu auf den Erfolg. Eine Zurichtung also, die vorgibt, wonach er sich zu richten hat, um zur Gel(d)tung zu kommen. In dieser zweifelsfreien Selbstgewissheit kommt er tatsächlich zu Geld und Ansehen. Und siehe an: Diese Zurichtung, in der er es sich durch Einfluss und Macht zu richten versucht, entmächtigt ihn, lässt nicht mehr das Leben aus ihm fließen. Im erworbenen Überfluss fühlt er sich überflüssig. Er kommt mit seinem erfolgreichen Leben über Kreuz. Es tötet ihn ab, beraubt ihn seiner Potenz, macht ihn ohnmächtig. So zugrichtet, beginnt er sich nun so zu richten, dass er den Aporien des Lebens, die im gesteigerten Schmerz sich offenbaren, zu entkommen versucht. Die Wahrheit ganz, wird von ihm gefordert, fordert er sich ab. Die Antwort auf den Stau seines Lebens ist der Sprachfluss: sich hineintreiben (lassen) in den Strom des Erzählens im Schreiben. Darauf verweisen unter anderem die tagebuchartigen Aufzeichnungen des Protagonisten. Es strömt. Die Sprache. Der Erzähler. Im ersten Teil des Romans ist es ein Reisender, ein Pilger, der in den Strom der Wallfahrer in Mexiko hineingesogen wird, seine Sprache strömt über in die Fremdsprache, ins Spanische. Fremdsprache für ihn wie für die Mexikaner, die sie heute, seit Jahrhunderten von ihr domestiziert, nicht mehr als solche empfinden. (Oder doch?) Zuerst ist sie ihnen aufoktroyiert worden von den Eroberern, dann wurde sie nach und nach, von Generation zu Generation internalisiert. Wie das mit vielem im Leben ist. Was uns anerzogen wird, internalisieren wir, als wäre es unser Eigenes. Die fremdsprachigen Textstellen sind aber nur Zitat. Das Zitat ist nicht nur ein Stilmittel des Romans unter vielen anderen, es ist ein wesentliches Verfahren: Einpflanzung des Fremden in die eigene Vorstellungswelt.

Darum geht es: um das Eigene, Eigentliche in Konfrontation mit dem anderen Eigentlichen, dem Fremden. Das Eigene, das im Selbst leitmotivisch durch den Roman mäandert, über Kreuz mit dem Fremden oder dem, was einem, lange vertraut, zum Fremden wird, wie in Wallfahrt Plaque Narbenfleisch die Vergangenheit des Erzählers. Vertraut scheint auch im Mittelteil des Romans, dem schmalsten Flügel des dreiteiligen Textaltarbildes, der Protagonist, ein Kardinal, mit sich und der Bibel zu sein, die er immer wieder zitiert, um sein verfehltes Leben zu rechtfertigen. Wer aber die Sprache missbraucht, wie dieser Geistliche die Bibel, vergeht sich auch an Menschen. Das zeigt noch deutlicher der dritte Teil des Romans, der rechte Flügel des Triptychons, der in etwa denselben Umfang hat wie der linke: Träumen in gefesselter Geilheit. Der Strom der Sprache in Peter Wagners Romam erinnert mich im Blick auf die Handlung in diesem letzten Teil des Magnum Opus an den Fluss, den Herakles umleitet, um den Stall des Augias auszumisten. Eine zunächst befremdlich wirkende Assoziation vielleicht, die aber etwas auf sich hat. Der Text wirkt als ganzer reinigend. Er dringt mit der Energie und Dynamik eines Stroms in die Mülllandschaften menschlicher Existenz ein und schwemmt sie aus. Er bringt Leben in die tote Materie, in totes Fleisch die Hoffnung auf Auf(er)stehen. Die Hölle, das sind nicht die anderen, wie Sartre monierte, die Hölle ist sich der Einzelne selbst, verkörpert in der Politmarionette Pilaster, dem Protagonisten des rechten Flügels der Trilogie. Die Hölle ist das untergründige Hauptmotiv des ganzen Romans. Um aus ihr herauszukommen, ist es notwendig – wie in der Göttlichen Komödie Dante mit Vergil – sie zu durchwandern. Wie Dante hat auch Wagner einen verlässlichen Wegbegleiter: die Sprache. Eigentlich Wegbegleiterin. Und ist es nicht gerade das inspirierend Weibliche der Sprache, das, im Gegensatz zur alles verschlingenden, hinabziehenden Sinnlichkeit des Geschlechts, herauszieht, hinan, um mit Goethes Faust zu sprechen. Die Sprache des Romans hat viele Facetten. Ernst, Ironie und tiefere Bedeutung (Grabbe). E-Sprache und Literatur gegen elektronische Kürzel-Sprache. Deshalb gefällt mir jene Passage im Roman sehr gut, wo dem Erzähler der Laptop abhanden kommt und er mit einem Mal wieder alles handschriftlich zu Papier bringt. Für mich persönlich ist die Handschrift die geistige DNA. Sie ist Körpertext, mehr noch: leibhafte Sprache. Diese handschriftliche Spur geht für mich selbst im Druck nicht verloren. Spur des Individuellen, Personalen, Leiblichen. Wagners Stil lässt sich charakterisieren als sinnengeprägte, sinnliche Sprache, die alle Sinne miteinbezieht, wie es vor allem in der Synästhesie von Sätzen zum Ausdruck kommt: …während er die Gerüche zu ertasten versucht. (S. 83). In dieser Sinnlichkeit durchbricht und überschreitet die Sprache Logik und Vernunft, ohne den Boden der intellektuellen Nachvollziehbarkeit des Gesagten zu verlassen. Es wird zwar nach-erzählt, was geschehen ist, zum Ereignis wird es aber erst durch einen Sprachduktus, bei der der Autor die Sprache sprechen lässt, etwa, wenn immer wieder Dinge und Begriffe wie sprechende Subjekte zu Wort kommen. Spricht die Sprache, bekommt das Gesagte einen Mehrwert, geht über Information und Wissen hinaus, hält nicht nur fest, was ist, öffnet vielmehr die Perspektive auf das, was noch nicht ist. Peter Wagner geht dabei in seinem Text an die Grenzen des Sagbaren, an denen das Nicht-Sagbare zur Sprache kommt. Wie anders könnte man Realitäten wie Perversionen, Hölle, Tod, aber auch angedeutete Visionen von glückendem Leben zur Sprache bringen? Sprache, zumal Sprache von der Qualität wie in diesem Wagner-Roman, bricht Hölle, die sich theologisch-existenziell als Kommunikationslosigkeit definiert, auf, indem sie erzählend durch diese Hölle geht. Aus dem Leben heraus in das Leben zurückfinden: Das ist, auf eine Kurzformel gebracht, wohl die Intention des ersten Texttafelbildes der Trilogie, das dem Triptychon Der Heuwagen von Hieronymus Bosch seine assoziativen Inspirationen verdankt. Diese Intention kommt über Kreuz mit dem mittleren Texttafelbild. Hier ist der Protagonist – ein Kardinal – als Täter festgenagelt an seiner Schuld, in die er umso tiefer hineingerät, je mehr er sein Tun als persönliche Opfertat zu rechtfertigen versucht. Die Handlung der dritten Texttafel verläuft umgekehrt zum Erzählten des ersten Teils. Während im ersten Teil der Ich-Erzähler sich aus der gescheiterten Mission eines erfolgsbestimmten Lebens zu retten versucht, sieht der Ich-Erzähler des dritten Teils seine Mission in einer erfolgreichen Karriere, die, wie vielfach üblich, über Leichen geht. Letztlich über den Leichnam seiner selbst. Wortkunst ist, wie der Autor auf Seite 170 des Typoskripts selbst schreibt, Hygiene der Seele. Was ist aber Seele, ästhetisch gesehen, anderes als Sprache und Form. Eine Sprache, die in diesem Roman in allen Stilfiguren in Erscheinung tritt, als wollte sie ihre monologisierenden Protagonisten einer eindeutigen Festlegung entziehen, vom Kreuz befreien, an das sie sich selbst genagelt haben oder wurden. Wie mit diesen Festgefahrenheiten der Figuren verfahren, um sie aus den Erstarrungen herauszulösen? Das macht die Form des Romans transparent: Ich-Perspektive als erlebte Rede bis hin zum inneren Monolog, damit das Un-und Unterbewusste aktiviert wird. Perspektivenwechsel, um durch verschiedene Blickwinkel Bewegung in die Beobachtungen zu bringen. Fiktion als Erfindung des Realen durch inspirierte Spracharbeit. Diskurs und Reflexion, auch Selbstreferenz der Sprache, um durch kritische Distanz zur Handlung Erkenntnis zu ermöglichen. Zeitlupe, um dem flüchtigen Augenblick Nachhaltigkeit zu verleihen. Nicht zuletzt die üppige Metaphorik, die Eindeutiges in Vielschichtiges verwandelt. So wie die eine Geschichte des Romans durch Zurichtung, Hinrichtung und Herrichtung in verschiedene (Ge-) Schichten sich ergießt. Ein hochpoetischer Sprachstrom, der fließen muss, damit Energie ständig gewandelt wird, wie es dem Leben entspricht. Die Menschheit hat Angst vor einem generellen Stromausfall, weil das gewohnte Leben dann zum Stillstand käme. Was aber, wenn der Sprachstrom versiegt? Peter Wagner steht in diesem Roman in Gestalt seiner Protagonisten unter Strom. Es ist eine gewaltige Energie, die die vielseitigen Äußerungen menschlichen Lebens auf Humantemperatur hält. Und das ist in einer Zeit der Klimaerwärmung, in der viele Menschen in ihrer Menschlichkeit zu erkalten drohen, enorm viel.

 

Lebenskrisen zur Kurskorrektur
Peter Wagner stellte in der Maierhofermühle sein Buch "Kreuzigungen. Ein Triptychon" vor.

ST. JOHANN I. D. HAIDE. Von den Lebenskrisen dreier Männer unterschiedlichen Alters und mit völlig unterschiedlichem beruflichen Werdegang erzählt der Roman "Kreuzigungen. Ein Triptychon" von Autor Peter Wagner. Der Mitbegründer des Kulturzentrums OHO in Oberwart blickt den Protagonisten in seiner Erzählung tief in die Seele: Einem in die Jahre gekommener Kulturmanager, einem Kardinal, der sich in ein Kloster zurückzieht, und einem rechtsradikalen Jungpolitiker. Die Zentrifugalkräfte des Lebens lassen sie beängstigend taumeln. Zugleich ist die Krise aber eine Chance zum Innehalten und für Reflexionen über ihr selbst gewähltes Lebensmuster. Musikalische Streuseln bekam Wagner vom Duo Eveline Rabold und Erich Sammer auf seine literarische Darbietung gestreut. Bei seinen Dankesworten versagte den emotionell sichtlich berührten Autor die Stimme. Umso lauter war der Applaus.
Kleine Zeitung, Franz Brugner 25.09.2013

 

Kreuzigungen. Ein Tryptichon (Peter Wagner)

Aus der Sicht sogenannter „Opfer“ ist ja bereits vieles geschrieben worden. Kein Wunder: Fast jeder Leser identifiziert sich lieber mit einer „guten“, „heldenhaften“ Person, die an äußeren Umständen zu leiden hat, als mit vermeintlichen „Verbrechern.“ Wie aber fühlt es sich an, „Täter“ zu sein? Oder anders gefragt: Sind nicht die Opfer- und Täterrollen in Wahrheit ineinander verflochten als wären sie verfilzte Haare?

Auf mutige Art und Weise stellt der Roman „Kreuzigungen. Ein Tryptichon“ von Peter Wagner drei sogenannte „Verbrecherstimmen“ nebeneinander und beschreibt deren Zerbrechen an weiblichen, nicht zuletzt auch katholisch geprägten Rollenbildern und Strukturen. Während der erste Teil einem Manager nach Mexiko folgt, der an den Ort zurückkehrt, an dem er einst eine Prostituierte ertränkt hat, handelt es sich bei dem zweiten Part um den inneren Monolog eines Priesters, dessen Vergangenheit in einer Art Altersdelirium über ihn schwappt. Der dritte Text schließlich lässt den rechtspopulistische Politiker Emil Piscator zu Wort kommen: Ausländerhass sowie Missbrauch von Kindern wird hier aus einer gnadenlos mutigen Innensicht geschildert, wobei der Bezug zum aktuellen politischen Tagesgeschehen in Österreich natürlich nicht fehlen darf. Ein überaus facettenreich geschriebenes Buch, das sich den Abgründen der Beziehungsunfähigkeit in drei unterschiedlichen literarischen Stimmen widmet, die dennoch ein stimmiges Ganzes ergeben. Der Umgang mit Sprache ist vielschichtig. So lässt Peter Wagner den Manager mit komplexen Sätzen erzählen und schildert dessen Erlebnisse und Erinnerungen sowohl in Tagebuchnotizen als auch in fiktiven Briefe an die Getötete, deren wahren Namen der Protagonist erst am Ende erfährt. Der zweite Teil hingegen ist eine Art psychotische, traum- artige Rede. Hier verschwimmen die Schichten der Zeit, die Figur verwechselt Vergangenheit und Gegenwart, bildet sich ein, in viel zu schweren Schuhen zu stecken, denkt an Mandelpudding und verliert sich in Erinnerungen an seine Liebe zu einem Knaben. In dieser Passage verwebt der Autor das Geschehen mit kursiv gesetzten Zitaten von Kardinal Gröer u.a.. Die Figur im dritten Teil schließlich spricht unterschiedliche Personen in ihrem Leben sowie sich selbst immer wieder in „Du“- Form an. Nicht nur der letzte Abschnitt aber ist angereichert mit direkten Reden und Monologen, die sich an jemand anderen richten; vielmehr zieht sich diese Form durch das ganze Buch. Mag sein, dass der vielseitig begabte Autor, der auch als Regisseur arbeitet, die im ursprünglichen Sinne dramatische, also an ein Publikum gerichtete Erzählweise schon im Besonderen verinnerlicht hat. Auf jeden Fall ist das Kippen in die Du- Perspektive bewusst gewählt. Denn immer geht es hier um das Scheitern am ANDEREN, das ja eigentlich ein Scheitern an sich selbst ist. Was die drei Blöcke verbindet, sind sogenannte Leitmotive: Da taucht immer wieder die Gottesmutter Maria auf, katholische Prägungen sowie sexuelle Vorlieben werden seziert, und auch der Uterus ist ein wichtiges wiederkehrendes Bild. Auf mutige Art und Weise widmet sich der Roman „Kreuzigungen. Ein Tryptichon“ drei unterschiedliche Sicht- und Seinsweisen von Männern. Durchleuchtet deren Innenleben in Zeiten wie unseren, in denen die Rollenbilder und Auffassungen von Geschlecht sich ändern, (- man denke hier nur an Judith Butler´s Konzept, dieses sei viel mehr Performanz als „biologische“ Prägung-) was, wie der Autor zeigt, eine große Verunsicherung auf allen Seiten zur Folge hat.

So zerbrechen auch Peter Wagners in ihrer Tiefenstruktur komplex angelegte (Täter)- Figuren an „Frauen“ und dem klassischen Frauenbild der Heiligen und der Hure, das sich nicht schablonenartig über Individuen stülpen lässt-und somit in Wahrheit an sich selbst. 

Sophie Reyer, DIE PRESSE, 21. April 2018