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Assoziative Beschauung 1

Von Peter Wagner
Texte zu Wolfgang Horwaths Bildern, Cselley-Mühle

Assoziative Beschauung I

Zu Wolfgang Horwaths dramatischem Gedicht in drei Strophen zu je vier Bildern „SELIG“
Donnerstag, 15.4.1999, Cselley-Mühle, nachts.

Wie es sich reißt, so schichtet es sich.
Gedanklichkeit ist uns zu groß. Und auch zu klein.
Die drei Akte der Seligkeit: Erinnerung, Sehnsucht, Sein.
Wer mag einen klaren Gedanken haben in diesen Tagen.
Oder anders gefragt: wer mag ihn nicht haben.
Wer bräuchte keinen klaren Gedanken.
Wer bräuchte nicht das exakte Bild, das ihm Gewissheit verschaffte.
Wer wollte nicht wissen, was man zu wissen hat, um sein Leben in die ihm zustehende Kategorie hineinzustellen wie in dem ihm zugeteilten Kleider- oder gleich: Kühlschrank.
Wir sind krank.
Wir sind krank vor lauter Bildern.
Wir sind am meisten krank nach dem Bild. Dem dräuenden Bild unserer privaten Hoffnung. Unserem Bild. Dem Bildnis.
Das uns heilte für zwei selige Minuten der Selbsttäuschung, die wir prompt als das Leben selbst missverstehen wollten, weil uns bisher weder irgendjemand sagte, wer oder was das Leben sei, noch weil wir es uns selber sagten in Ermangelung einer tauglichen Gewissheit. Gott ist gegangen.

Nein, der Gedanke ist falsch, wenn auch richtig gedacht - oder richtig, weil falsch gedacht:

wir sind nicht krank vor lauter Bildern, sondern krank vor endloser Verhandlung der Bilder - die Verhandlung der Bilder in uns und außerhalb von uns macht die Bilder und uns naive Bilderesser schon lange und längst krank:

die Sprache hat uns die Magie der Bilder gestohlen, die Sprache, jene Große Sinnperformance, das kapitale Eifersüchtige des kreatürlichen Seins - sie, die gemacht wurde, um nicht die Seele, sondern das Gesetz zu formulieren - in dem Sinne, wie es da geschrieben steht.

Man sollte den Hochverrat der sich da wie selbstverständlich paarenden Daseinsweisen verbieten - oder zumindest unterbinden, dass die Bilder mit der Sprache, einer sublimen Bilderwelt, weiterhin zusammengebracht wird. Man machte sich schuldig an der Reinheit unserer Erinnerung an unser Sein noch vor unserer Zeugung.

Aber leider hat uns die Zeugung am Verbleib in der Reinheit schon einmal gehindert, und zwar nicht, weil es unrein gewesen wäre, uns zu zeugen, sondern weil es an sich schon schuldhaft ist, aus dem Nichts herauszutreten in das sog. Wesenhafte, das nun einmal in Bezug zu setzen ist zum Seienden. Der Bezug, die Krankheitsquelle. Die Kirche hat es schon immer gewusst: immerhin erdachte sie die Erbsünde für uns, um uns nicht achtlos dem Seienden gegenüber zu belassen - und um das angeborene Anrecht auf Schuld sogleich zum Legitimationsprinzip ihrer selbst zu erheben: wehe, wir leben, gleich haben wir das Gesetz um die Ohren. Dieses ist immer noch von Gott diktiert, welche Farbe auch immer wir ihm geben.

Ach die Priester, sie kennen das Verbrechen der Unschuld wohl, das Verbrechen wider die Ordnung. Doch ihnen die Unschuld per se keine Macht bescherte, werden sie sich der Sprache vergewissern: ein Priester wird Satan mindestens so verehren wie Gott, sagen wir: wir Priester lassen uns zu allererst von Satan faszinieren, wer den Christ hat, braucht sich um den Antichrist nicht zu sorgen, Kultur ist mindestens sosehr das Produkt des Bösen, das kreativ ist, wie des Guten, das wir gelassen, ja gleichgültig als gelangweilte, metaphysische Nonchalance vernachlässigen können. Im Gegensatz zu Gott wissen wir von Satan zumindest, wer er ist. Wir, die Priester, stehen seit Jahrtausenden in der Schuld unserer Verderber vom Schlage eines Moses, der all diese Tafeln schuf, in die das Gesetz so lange geschlagen wurde, bis es leblos war, im Gegensatz zur Sünde, die das Gesetz vernichtet. Und noch die heutige Jurisprudenz ist mit der Kreativität des Menschheitsverderbers Moses nicht fertig, im Gegenteil: Moses Tafeln sind vom Schlage der Hydra, ein einziger kreativer Schlag gegen das Gesetz gebiert tausend neue Gesetze.

Und doch ist das Gesetz nur das geborene Tote. Das Gegenteil von Gesetz mustert sich so facettenreich wie das Gegenteil von Mauer: es ist nicht definierbar. Die Sprache, dieses Fuhrwerk, aberzwingt uns das Definierbare - um es an der Kippe der Nichtigkeit in den Abgrund zu werfen wie einen leer gefressenen MacDonalds-Karton. Das Gesetz, das Geschriebene, das bekritzelte Papier seiner selbst. Die Medienoligarchie des zwanzigsten Jahrhunderts übt sich denn auch mit kaum verhohlener Freude in der Funktion eines priesterlichen Sektiererklub, der die Schande des Moses, der uns das Gesetz auf Tafeln gab, in und auf und über dünnem Zeitungspapier ausspült und verwäscht, bis es so dünn geworden ist, dass sich jeder versniffte Karrierist das Nasenloch damit ausbohren kann, um seinen temporären Schleim in den Müllkorb des Vergessens hinein verschwinden zu lassen. Moses war ein  blutiger Menschenfreund im Vergleich zu der menschlichen Scheiße, die heute Weltkapitalismus praktiziert, und zwar vollkommen unblutig, weil CNN die Bilder von den Toten in Bagdad und Belgrad, das Bild des Krieges nicht mehr, grundsätzlich nicht mehr sendet und an seiner Statt das Bildnis routinierter Handhabe im sterilen Design setzt.

Unablässig fällt die Sprache herab auf uns, jener Stalaktit, der aus unseren nie geweinten, nicht rechtzeitig genug geweinten Tränen der vorzeitlichen Erinnerung sich zum Tropfstein unserer Erinnerungen zusammen geschichten hat, bis er uns mitten in das Selbstbeweinen hinein stach: wir wollten schon immer wissen, woher das Unsägliche anstammt, dem wir uns in der Heimtücke unserer Träume, im Wunschtraum unserer Sehnsüchte, in der Sehnsucht unserer hilflosen Gier nach Liebe so folgenschwer hilflos ausgeliefert sahen.

Goethe, er muss jung und dumm gewesen sein oder alt und weise oder alles dies in jeglicher Vermischung, Goethe dröhnt es aus dem blutroten Gleichnis der Normandieküste heraus:

„Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
das Lebend´ge will ich preisen,
das nach Flammentod sich sehnet.“

„Seelige Sehnsucht“ nennt er sein Gedicht, das von der ewig pubertären Lockung spricht, die einst auf dem Chefpolster einer großen Rüstungsindustrie enden könnte.

„In der Liebesnächte Kühlung
die dich zeugte, wo du zeugtest,
überfällt dich fremde Fühlung
wenn die stille Kerze leuchtet.“

Und da heißt es weiter:

„Nicht mehr bleibest du umfangen
in der Finsternis Beschattung
und dich reißet neu Verlangen
auf zu höherer Begattung.“

Moses brüllt wie ein Stier dabei, da er seine virulente Impotenz über Johann Wolfgang Goethe - entgegen seiner Fama als unersättlicher Liebhaber ja auch keine sexuelle Größe, sondern ein Melancholiker, aber das ist ja das Problem der sich von der Natur übervorteilt Glaubenden - da er also seine virulente Impotenz als überwunden erachtet.

„Keine Ferne macht dich schwierig
kommst geflogen und gebannt
und zuletzt des Lichts begierig
bist du, Schmetterling, verbrannt.“

Nun aber mag man in der Fortsetzung darüber rätseln, wessen Geleitwort er meint, jenes der verbrannten Schmetterlinge, die sich heute vielleicht Serben und Albaner nennen dürfen in Anbetracht ihrer dialektischen Unsäglichkeit, oder jenes des verbrennenden, begierlichen Lichts, das sich hinter dem Decknamen NATO und USA als Deus ex machina einer gottlosen Welt gebärdet:

„Und solang du das nicht hast
dieses: Stirb und werde,
bist du nur ein trüber Gast
auf der dunklen Erde.“

Der Romantiker. Die Kriegstreiber. Goethe. Bill Clinton. (Verzeihung, daß ich Slobodan Milosevics vergaß, er ist nur der Satan - sensationell, aber sicher nicht gotthaft wie Goethe. Clinton hingegen ist ein besserer Trottel, und nur für den Augenblick ähnlich effektiv wie Goethe: seine Scud-Rakete steckte bis jetzt nur im Mund der Praktikantin, jetzt aber endlich feuert er.)

Die Sprache ist das Kunstwerk.
Es missbraucht die Bilder schamlos. Soeben: Scud-Rakate.
Und ungefragt.
Und unbestraft.
Und fügt sie ungefragt und unbestraft und schamlos zum Bildnis.

Das Bildnis, diese Nutte, ist so kraftvoll, dass es nicht einmal in Betracht zieht, jemals wider eigenes Wollen beschlafen zu werden, es erfände sich lieber neu. Wenn

es dann trotzdem schreit: Vergewaltigung, durch den lefzenden Mund sadomasochistischer Schreiber der Sprache ihr in den Hinterteil suggeriert, dann ist es selbstverständlich zu spät.

Dann soll sich das Bildnis, bei CNN zum Kaffee-Kochen anstellen - im Lidschatten ihres Schmerzes wird man nur noch einmal knapp daran erinnert, dass es ein Bild hinter dem Bildnis gab, vor langer Zeit, als uns das Schauen einer Erinnerung wert war.

Assoziative Beschauung II

Zu Wolfgang Horwaths Bildern „Die Brüste des Kurators“, „Fragebogen“ und „Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“
Freitag, 16.4.1999, Cselley-Mühle, vormittags.

In Anbetracht des bekanntesten Bildnisses des Gesetzes, den Gesetzestafeln, bleibt die Figur, die Ahnung der Figur durch den so grazil verletzbaren wie gefestigt ewigen, unverletzbaren, weißen Torso, den Leib des Menschen als Sinnbild für seine irdische Existenz, unberührt, zentral, erhaben - das Sinnbild nicht nur des Profanen, sondern das der Würde. Um die nur der Profane zu ringen hat, im übrigen mit Aussicht auf Erfolg, weil das Göttliche zur Erhebung des eigenen, im Gegensatz zum Profanen, nicht mehr fähig ist - es kennt keine Steigerung, es ist im Absoluten erstarrt. Das Gesetz, die Inthronisierung des Un-Menschlichen, drängt das prinzipiell hilflose Individuum zur Mobilisierung seiner Würde, in der die Verletzung als kosmische Erfahrung schlummert und sich zum großen Erlebnis des sich Hingebenden entwickelt. Der Kampf um die Würde wird schließlich zum einzigen Kampf des Menschen, den er gewinnen kann, alles andere - inklusive aller der vermeintlich gewonnenen Kämpfe - endet früher oder später in der Nichtigkeit, die den Göttern nicht einmal mehr einen Spott wert ist. Die Würde hingegen offenbart sich als ihr mächtigstes Feind, sie ist des Menschen eigenste Leistung, an der die sich wechselhaft gebärdenden Gesetzestafeln noch den letzten Flair ihres Verbrechens aushauchen. So verbrecherisch kann das Gesetz gar nicht sein, als dass es die Würde des erhobenen wilden Tieres Mensch zur Strecke brächte.

Der Mensch war vielleicht weniger zum Fragen geboren, als zum Fragen verdammt. Denn erst das Fragen wirft die Existenz auf und erklärt uns ihren Un-Sinn aus dem Fehlen der gültigen Antwort. Und doch, auch hier tröstet uns die Figur als dem Bildnis der Würde, wo eine Figur, der eine einsame Entwurf der Würde, der anderen Figur, dem anderen einsamen Entwurf der Würde, gegenübersteht. Vielleicht sind sich beide Gegenüberstehenden ident, das Weibliche und Männliche, getrennt nur durch die Unerbittlichkeit des Spiegels, in dem der eine sich im anderen erkennt, erkennen muss als das, was er selber ist, in all der Sinnlosigkeit des Fragens - nicht erdrückt - sondern unter den Fragen versteckt, getarnt hinter dem Müllsteinschlag vergeblichen Bemühens um Wahrheit, dem Wespenhaufen aller hinfälligen Grundsätze, die ohnehin keiner mehr glauben kann. Glauben will. Glauben wird. Die Frage, das bessere Versteck. Die Antwort, die traurige Bankrotterklärung des Lebens, die man sich getrost ersparen kann. Die Frage, das bessere Versteck. Hier ahnt man vielleicht, dass die Liebe Heimat ist, Heimat derer, die sich ihr Versteck bewahrt haben. Der Penis ist nicht umsonst erigiert, sein Ziel ist das Versteck des anderen, das aufgerissen werden will, ohne es jemals zu sein. Sein zu müssen. Die Frage ist das bessere Versteck.

Die Wahrheit hingegen die Erfindung eines Lügners. Vorsichtshalber verkehrt herum zu lesen, denn wer weiß, ob eine Wahrheit, die behauptet, Wahrheit wäre die Erfindung eines Lügners, nicht doch gleich lieber im Sinne des Erfinders dieses Satzes zu interpretieren ist, dass nämlich auch einer, der so etwas behauptet und also als wahr hinstellt, was nur Lüge sein kann, der allerschlimmste Gauner unter den aufgeklärten Demagogen sei. Oder lesen wir es zweimal verkehrt, das verkehrte wieder grade, dann ist der Lügner eine Erfindung der Wahrheit. Alles in allem kann das nur bedeuten, dass es nur Lügner und Lügen geben kann, niemals aber so etwas wie eine Wahrheit, außer der, dass alles Lüge ist - somit wäre die Lüge die einzige verbleibende Wahrheit. Vor diesem Hintergrund wird das Spiel der Menschen untereinander endlich halbwegs verständlich, das Spiel der Individuen untereinander, das Spiel der Völker, die ja von je her das Meucheln und Morden und Bombenwerfen mit selektiver Propaganda zu rechtfertigen suchten. 

Wie das Schwert einer Kettensäge führt der Wahrheitslügner sein Werk in die bestehende Ordnung ein, fährt in ihr Fleisch, in die Skyline der gewachsenen, besser: hochgeschossenen Ordnung. Während die Hand der Penishandschlange das blaue Gift der Ratio als ausgespieenen Styx an den Urheber zurückbefördert, den Wahrheitslügner, einen verborgenen Gott, und wie ich meine: einen integral ausgeschlossenen Gott. Ist die manifeste Ordnung, das immer wieder zerstörte und immer wieder neu erschaffene Babylon, ist die manifeste Ordnung am Ende nicht nur die Erfindung eines Lügners, sondern gar die eines Rächers, der alles zerstört, wovon er ausgeschlossen ist, auch wenn er es selbst erfunden hat, weil auch er an der Unerreichbarkeit der Wahrheit verzagt? Ist Ordnung nicht überhaupt so etwas wie eine Rache, die Rache am Fleisch, die Rache an der Würde der Naiven?

Nun denn, so sage ich euch: lügt, was ihr könnt, der Erhaltung unserer Würde wegen, wir brauchen mehr Wahrheit!

Die Häuser und Türme Babylons sind gesteckt voll, aber ich wette, wer guten Willens ist, wird unterkommen. Und wenn, ihr Wahrheitslügner, die Türme euch zu hoch sind, schneidet sie ab und setzt neue drauf, ihr werde am Ende mit Gott reden und mit den Göttern verkehren. Ihr alle, wir alle!