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Ein Orchesterkonzert als politische Bekundung

Zum Jahresprojekt zone38 und zum Tod von Wolfgang R. Kubizek

Von Peter Wagner
8. November 2008

Die sog. Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 hat der Welt erstmals das wahre Gesicht des Terrorregimes der Nazis in Deutschland und Österreich gezeigt. Rund 400 Menschen wurden getötet, es brannten die Synagogen und Privathäuser von Juden. Hunderttausende wurden in der Folge in KZs deportiert. Die Novemberpogrome 1938 kennzeichnen den Übergang des Nazi-Regimes von der jüdische Mitmenschen betreffenden Diskriminierung und Ausgrenzung – kommt uns das irgendwie bekannt vor? – hin zur systematischen Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden.
Auch Oberwart hat diesen Tag wahrgenommen. Wenn auch, wie ein Zeitzeuge sagt, in sehr „abgeschwächter Form“, da seien höchstens ein paar Fensterscheiben und Auslagen eingeschlagen worden, es seien ja schließlich ohnehin keine Juden mehr da gewesen. Man hatte hierzulande plan gemacht, im Sommer und Herbst 1938 gab es die Menschen nicht mehr, die noch ein halbes, ein viertel Jahr davor Mitbürger mit gleichen Rechten und Pflichten gewesen waren.
Wie kennzeichnet man den graduellen Unterschied zwischen der Gewalt des Vertreibens und der Gewalt des Brandschatzens und Vernichtens? Oder der Gewalt, die Fensterscheiben einschlagen lässt, obwohl ohnehin keine Juden mehr da waren? Auch heute noch, siebzig Jahre später, ruft der kollektive Machtrausch eine beklemmende, verstörende und so wenig fassbare Ohnmacht aus, auch bei uns Nichtbetroffenen – und doch Betroffenen, weil wir ja die Kinder und Enkelkinder derer sind, die sich von diesem Rausch gefangen nehmen und dafür jeden Verstand und jegliches Mitgefühl fahren hatten lassen.
Das siebenteilige Jahresprojekt zone38 des Offenen Hauses Oberwart hat einige Fragen gestellt, was die Zeit des Anschlusses Österreichs an Nazi-Deutschland in Oberwart und im Burgenland betrifft. Immerhin wusste man, dass das Burgenland von den im Untergrund wirkenden illegalen Nazis bestens auf den Anschluss vorbereitet gewesen war. Dennoch galt und gilt dieses Jahr in mancherlei Hinsicht als weißer Fleck, sowohl in der Geschichtsschreibung als auch im Gedächtnis der Menschen hierzulande. Bezeichnender Weise kam der Hinweis eines anderen Zeitzeugen wie nebenbei in einem Gespräch, auch in Oberwart hätten die jüdischen Bürger gleich nach dem Anschluss den Gehsteig vor dem Park kehren, ja mit der Zahnbürste reinigen müssen, von Oberwarter nichtjüdischen Bürgern mit Karabinern bewacht. Davon zeigte sich selbst die regionale Geschichtsschreibung überrascht, offenbar hatte bis dahin niemand darüber gesprochen. Man tut sich noch immer schwer mit dem Sprechen, selbst 70 Jahre danach.
Dennoch ist auch Positives zu vermelden, trotz der viermaligen Komplettzerstörung der Installation PFLÖCKE/Korridor vor dem sog. Anschlussdenkmal in Oberschützen durch Unbekannt. Übrigens: Ein einziger Pflock hat seit der letzten Devastierung der Installation Anfang Juni dieses Jahres beharrlich Widerstand gegen seine Entfernung geleistet. Er steht heute noch an seiner Stelle, stellvertretend für 69 andere, die dort nicht stehen dürfen, weil sie dort nicht stehen sollen, wo sie an etwas erinnern.
Zum Positiven: Die Ausstellungsinstallation „Vom Bürsten und Kehren“, ein Werk der beiden Künstlerinnen Eveline Rabold und Sabine Meier, das an den Exodus der Oberwarter Juden 1938 und das fast völlige Ausbleiben ihrer Rückkehr nach 1945 erinnert, errichtet im Stadtpark Oberwart, eröffnet von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, konnte jedenfalls ohne jeden nächtlichen-anonymen Angriff bis zum heutigen Tag ihr Dasein im öffentlichen Raum überleben - etwas, das vor 28 Jahren bei einem sog. Zigeunerdenkmal, das an fast der gleichen Stelle an die Verfolgung und Vernichtung der Roma erinnerte, noch nicht möglich war.

Von der Ausstellung im Rathaus, die das Zitat eines Zeitzeugen aus Oberwart im Titel führt: „... ich hätte viel zu erzählen, aber dazu sage ich nichts“, kann sogar vermeldet werden, dass sie einen eindeutigen Erfolg bei den zahlreichen Besuchern erzielen konnte. Die Historikerin Ursula Mindler und der Bildende Künstler Wolfgang Horwath nahmen in ihrem exemplarischen Versuch, neben einem Abriss der Vorfälle des Jahres 1938 auch den detaillierten Nachweis über Arisierung und Übernahme jüdischen Besitzes in Oberwart zu erbringen, fast das gesamte Rathaus in Beschlag (das Ergebnis dieser Arbeit liegt mittlerweile auch in Buchform auf). Umfangreiche Führungen von Schülern durch die Ausstellungen sowie ein Workshop zum Thema Zivilcourage eröffneten Hunderten von Schülern ein Thema, für das die Gegenwart sehr wohl Analogien bereit hält, mögen sie sich nun in den vielen Formen offen geschürter oder klammheimlich durchscheinender Xenophobie, den Segnungen einer im neoliberalen Gewande legitimierten Konkurrenz- und Neidgesellschaft oder in immer unverhohlener geäußerten Varianten des autoritären politischen Gedankens äußern.
Der Geschäftsführer des Offenen Hauses Oberwart, Alfred Masal, hat es sich nicht nehmen lassen, zahlreiche Führungen durch die Ausstellung im Rathaus selbst zu leiten. Er kann heute von Bewusstseins- und Stimmungslagen innerhalb der heranwachsenden Generation erzählen, die uns durchaus alarmieren sollten und die ja auch im Wahlverhalten vieler Jugendlicher, viel zu vieler Jugendlicher bei der zuletzt stattgefundenen Wahl einen beängstigenden Ausdruck gefunden haben. Er kann aber auch etwas von Neugierde und einer noch immer wachen Bereitschaft zur geistigen Eigenleistung Jugendlicher erzählen, sobald diese nicht nur angeboten, sondern auch eingefordert wird.
Und noch einmal das sog. Anschlussdenkmal in Oberschützen. Dieser Tage hat ein zweiter, zur Fortsetzung einladender Versuch begonnen, die nackte, ungestaltete, geduldete Anwesenheit eines Anschlussdenkmals in Oberschützen zu thematisieren, eines Bauwerkes, das zwar 1997 per oberschützer Gemeinderatsbeschluss als Friedensmal apostrophiert wurde, trotzdem aber in ästhetisch völlig unveränderter Weise heute genau so dasteht, wie es 1939 erbaut wurde. Seit gestern hängen in Oberwart Großplakate der Bildhauerin Ulrike Truger, die dieses weithin sichtbare, symbolische Bauwerk der Nazis und ihrer glühenden Verehrer einem anderen Begriff der Dorferneuerung anempfehlen, nämlich einer Erneuerung geistigen Lebens, die in vielen Gemeinden offenbar noch nicht stattgefunden hat.

Den Abschluss der zone38 bildet schließlich die Uraufführung eines Auftragswerkes des Oberwarter Literaten Clemens Berger, des Theaterstücks „Und jetzt“. Vages Vorbild für Bergers durchaus kritischen Versuch, unsere Gedenkkultur bzw. unseren Umgang mit dem Gedenken zu thematisieren, ist der Mord- und Selbstmord eines jüdischen Tierarztes in Oberwart, eines der letzten Verbliebenen offenbar, der in der Silvesternacht auf 1939 seinen Sohn und sich selbst getötet hat. Die Premiere findet denn auch am Silvesterabend, als genau 70 Jahre nach der Tat, statt. Sie beinhaltet neben der Ebene des klassischen Sprechtheaters auch parallel laufende, emanzipiert gestaltete Elemente des Modernen Tanzes und bietet auch in ästhetischer Hinsicht eine Premiere. Danach wird das alte Jahr von einer Klezmer-Band hinaus gespielt und das neue hereingespielt. Anmeldungen für diesen Abend werden ab heute in diesem Haus entgegen genommen.

Mit dem nun folgenden Orchesterkonzert in Erinnerung an den kollektiven Zerstörungs- und Vernichtungswahn der in Schwung gekommenen Nazibarbarei setzt das Jahresprojekt zone38 einen weiteren Schwer-, wohl aber auch Höhepunkt. Eröffnet wird der Abend durch eine unerwartete, glückliche Fügung mit dem jüdischen Totenlied „El male rachamim“, vorgetragen vom Tenor Oberkantor der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, Mag. Shmuel Barzilai. „El male rachamim“ sind die Anfangsworte eines Gebetes, das u.a. auch zum Gedenken an die Opfer des Holocaust vorgetragen wird. Willkommen Oberkantor Shmuel Barzilai.
Nach dem Totenlied ist der weitere Abend dem erweiterten Janus-Ensemble unter der Leitung von Christoph Cech überlassen. Das Ensemble wurde 1996 von Wolfgang R. Kubizek und Christoph Cech mitbegründet. Es wurde für den heutigen Orchesterabend auf 40 Musiker erweitert. Ein Willkommen dem Janus-Ensemble und dem Solisten Johann Leutgeb.Bei der Auswahl der einzuladenden Komponisten war die Entscheidung, damals im Feber 2008, relativ bald getroffen. Aus nahe liegenden Gründen sollten sowohl ein jüdischer Komponist als auch ein Komponist der Volksgruppe der Roma darunter sein, denen wir zeitgenössische, österreichische Komponisten, Protagonisten des anderen Österreich, hinzufügen wollten.
Mit Tzvi Avni sind wir auf einen israelischen Komponisten mit weltweiter Reputation gestoßen, der unserer Einladung mit Freuden gefolgt ist. Er ist Mitte dieser Woche in Österreich eingetroffen und heute anwesend. Sein Stück „Prayer“ verwandelt das Gebet in Musik und die Musik in ein Gebet. Willkommen, Tzvi Avni.
Auch Kamil Polak, der aus der Slowakei gebürtige und in Wien lebende Rom, ist zugegen, wir werden ein Stück von ihm hören, das als Auftragswerk des Offenen Hauses Oberwart Bezug nimmt auf die Toten Roma des Bombenattentates von Oberwart und schon bei der Uraufführung im Jänner 2005 hier in diesem Saal die Zuhörer bewegte. Willkommen, Kamil Polak.
Christoph Cech, der Dirigent des heutigen Abends, mehrmaliger künstlerischer Gast in diesem Haus, zuletzt bei den Tiroler Festspielen Erl mit der Uraufführung „Missa“ in Erscheinung getreten, steuert die Uraufführung eines Werkes für Streichorchester bei. Willkommen Christoph Cech.
Und schließlich stand bei der ursprünglichen Suche nach Komponisten ein Name gleich an erster Stelle: Wolfgang R. Kubizek. Als ich ihn im Feber dieses Jahres fragte, ob er für dieses Konzert ein Stück komponieren würde, sagte er in seiner üblichen, knappen Art in genau sieben Wörtern: „Du weißt eh, dass ich das mache.“
Unerwartet und zur tiefen, weiterhin nachwirkenden Betroffenheit von uns allen, die im OHO aktiv waren und sind, ist dieses Konzert nun nicht nur auf die programmierte Erinnerung der Pogrome von 1938 beschränkt. Es hat die traurige Pflicht, an den Komponisten selbst zu erinnern, an den Urheber eines Werkes, das das Gebaren Österreichs mit und in seinem Selbstverständnis oder besser gesagt: Nicht-Selbstverständnis als Mittäterland zum Thema macht.
Wenige Tage nach Fertigstellung der Partitur ist Wolfgang gestorben, herausgerissen, wie man sagt, mitten aus dem Leben, zynisch wie das Leben ist, wenn es uns den Tod anträgt, den ganz und gar nicht erwarteten, den heimtückischen, uns das Leben nimmt, das nicht mehr einklagbare, nicht dem Individuum alleine nimmt, sondern auch seinen Geliebten und Freunden, denen das Leben des Geliebten und Freundes genommen wird.
Kubizek entstammt einer traditionsreichen Komponistenfamilie, die ihr Zentrum in Oberösterreich hatte. Sein Großvater war ein Jugendfreund Adolf Hitlers. Er hat darüber das Buch „Adolf Hitler mein Jugendfreund“ geschrieben, das 1953 erstmals erschienen ist. Wolfgang sagt darüber in seinem letzten Interview mit der Musik-Internetplattform Mica: „Das war für mich zu Hause als Kind in Form eines Buches gegenwärtig, das auf dem obersten Regal gestanden ist und das man nicht in die Hand nehmen hat dürfen. Als ich begann zu begreifen, warum man das nicht angreifen durfte, habe ich begonnen, alles das zu tun, was meine Eltern nicht wollten.“ Fast logisch folgt einige Absätze danach der Satz: „Für mich war Musik nie etwas, das man nur macht, um einfach zu spielen, sondern in irgendeiner Form immer thematisch auf die Gesellschaft bezogen.“
Wolfgang hat diesen Grundsatz gelebt wie kaum ein anderer Kreativer. Obwohl er der Musik immer den Stellwert als einer eigenen, in ihrem eigenen Mysterium sich mitteilenden Kommunikationsform zugestand und diesen auch einforderte, trennte er sie niemals von ihrer Identität im Politischen. Vielleicht gerade deshalb, weil Mysterium und Politisches sich gar nicht so fern sind wie allgemein geglaubt. Sein energisches und oftmals auch sehr einsames Engagement für zeitgenössisch-avantgardistische Musik im OHO der Neunzigerjahre und in der von ihm mitbegründeten Vereinigung „Komponisten und Interpreten im Burgenland“, kurz: KIBu, war durchdrungen vom Glauben an die gesellschaftliche Bedeutung von Musik, auch wenn sich dieser oftmals ausnahm wie ein Kampf gegen Windmühlen. Irgendwann schien er dann auch knapp daran zu resignieren und den Sinn seiner eigenen Arbeit in Frage zu stellen. Man dachte, er habe aufgehört mit dem Komponieren, er suche Glück und Orientierung – auch irgendwie bezeichnend – im Volksbildenden. Aber einen so sehr von seiner Berufung Durchdrungenen konnte die Musik und das Musikschaffen nicht auf Dauer verlassen. Wie man sieht, hat es auch in der Zeit, in der er eher zurückgezogen erschien, eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Kompositionen gegeben. Bis ein Kompositionsauftrag des Mauthausenkomitees ihn überhaupt aus seiner vermeintlichen Klause holte und seine kompositorische Energie in das gewaltige Oratorium „... und alle Toten starben friedlich“ nach dem Text von Vladimir Vertlib, uraufgeführt in Mauthausen 2007, münden ließ.
Es ist Wolfgang nicht vergönnt, die Uraufführung seines Werkes „atme österreich“ selbst zu erleben, wiewohl Christoph Cech, der sich in den letzten Wochen intensiv mit der Partitur beschäftigte und sie technisch vollendete, auch betont, Wolfgang sei quasi ständig neben ihm gestanden.
Wir werden sein Werk stellvertretend für ihn erleben und empfangen. Um auf diese Weise noch einmal mit einem Menschen verbunden zu sein, der nichts so sehr für sich wünschte, als über ausschließlich seine Musik erspürt und empfunden zu werden. Hier bist Du noch einmal, Wolfgang. Und schon wieder. Wir wünschen uns, Dir durch Dein Werk noch öfter und immer wieder nahe sein zu können. Willkommen, Wolfgang.