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Es ist eine Not mit uns

von Peter Wagner
Die Rede ist in der „Volksstimme“-Beilage “Panorama“ im Frühjahr 1990 erschienen.

Bei einer Veranstaltung im Kulturzentrum „Offenes Haus Oberwart“ hielt der Schriftsteller Peter Wagner eine „Rede zur Lage der Kulturnation“, in der er sich mit der Ausländerpolitik beschäftigte. Zum Zeitpunkt der Rede waren an der Grenze die Bundesheersoldaten noch nicht aufmarschiert.

Peter Handke in einem Interview mit einer österreichischen Tageszeitung: „Ich sage Ihnen: Bei Gott habe ich immer Sehnsucht gehabt, Widerstand zu leisten. Aber kein Land der Welt macht es so schwierig oder unmöglich, dass man Widerstand leistet, wie Österreich. Gegen das, was Widerwillen, Hass, Unmut, auch Verzweiflung auslöst hier. Die tief innere, man muss schon sagen, Massenseele hier. Ich weiß nicht, was dagegen tun. Sicher sage ich mir immer wieder: Du musst das aushalten, und du gehörst auch selbst dazu auf eine Weise.“

Ich bin also Österreicher. Ich bin ein Österreicher. Lapidar die Feststellung zwar, aber umso heftiger die assoziativen Reaktionen in mir. Was bedeutet es, ein Österreicher zu sein? In welches Selbstverständnis hüllt man sich ein in dem Augenblick, da man das furchtbare Bekenntnis ausspricht: Ich bin Österreicher. Furchtbar deshalb, weil man sich als denkender Österreicher damit in einen schizoiden Zwischenraum begibt: Einerseits die Hoffnung auf das, was man Heimat nennt, und Heimat ist jener Ort, von dem du möchtest, dass dein Tisch und dein Bett dort stehen; anderseits die unabdingbare Notwendigkeit, sich als Österreicher, der denkt, sofort wieder distanzieren zu müssen von dem, was Österreich als die vermeintliche Identität des Österreichers ist. Zwischen der Hoffnung auf Heimat und der Notwendigkeit der Distanz zu ihr liegt der quälend lange Weg durch die Wüste der österreichischen Realität, in der dem Suchenden das Laufen im Kreise bleibt, später das Kriechen im Staub einer zu Tourismuskitsch verkommenen Vergangenheit, in der dem Phantasievollen nur das Dahindämmern im Koma der geistigen Unterernährung bleibt, während eine Armlänge neben ihm das Rülpsen und Furzen, das Intrigieren und Huren an einem bis zur Entartung überfüllten Tisch sich zu Jedermanns Adabei-Festspielkultur zusammenorchestriert.

Wie ein zweites Herz

Das erste Mal musste ich die Krankheit, Österreicher zu sein, in einem Lebensabschnitt erfahren, da das Geheimnis zu leben noch irgendwo in einem unbekannten Inneren verborgen war und gerade aufbrechen wollte: in meiner Pubertät. Mein Denken hatte noch mehr mit meiner Sinnlichkeit zu tun als mit meinem Verstand, und vielleicht trug gerade dieser Umstand Schuld an der Verwüstung, die der Blick ins Geschichtsbuch, in die Geschichte meiner direkten Vorfahren, anrichtete: Nicht nur die Invasion deutscher Truppen, der militärische Einmarsch Hitlers (eines Österreichers also), der politische Anschluss Österreichs an die Sprache der Gewalt, sondern vielmehr der Verrat der Österreicher, der Verrat des Volkes Österreich am Volk Österreich, der folgerichtig am Ende der Rechnung von den professionellen österreichischen Geschichtsfälschern wegretuschiert wurde, indem man Österreich als erstes Opfer des Hitlerfaschismus in die Geschichte hinein zu lügen versuchte. Ich kann dem Österreich diesen Verrat nicht verzeihen, bis heute nicht. Ich höre ihn pochen, den Verrat, wie ein zweites Herz, das dem Körper dieses Landes einverbleibt ist, ein falscher, hinterhältiger, dumpfer, gewalttätiger zweiter Rhythmusmacher, der uns nicht frei werden lässt von einer doppelbödigen Moral; ein böses zweites Herz, das auf das Antlitz des angeblich gutmütigen, leutseligen, im sympathischen Sinne fatalistischen und zurückgebliebenen, im Lebensstil gemütlichen und im Künstlerischen genialischen Österreichers den Schatten aggressiver Ignoranz, süffisanten Vernichtungswillens, progressiver Unterordnung und autoritäre Macht- und Gläubigkeitsstrukturen wirft.

Nichts kennzeichnet die Doppelbödigkeit österreichischer Moral besser als die laufende Diskussion um Flüchtlings-, Asyl- und Ausländerpolitik. Politiker und Medien hierzulande schmücken Österreich gerne mit dem Prädikat eines „klassischen Asyllandes“. Sollte Österreich wirklich jemals ein „klassisches Asylland“ gewesen sein, dann hat man es spätestens jetzt als solches verraten. Und mit ihm die Haltung – die ja offenbar einstmals existiert haben muss –, den Fremden, den Ausländer, den, egal aus welchen Gründen, Vertriebenen und Emigrierten als etwas anderes zu sehen als den Juden von heute, den menschlichen Giftmüll, der uns eventuell sogar das Schwarze unter den Fingernägeln herausätzen könnte.

Initialzündung

Wir Burgenländer dürfen uns zumindest rühren, im Bemühen um die neue Ausländerfeindlichkeit an vorderster Front mitgeritten zu sein: Ein Landtagsabgeordneter der blauen Fraktion bemüht vor laufender Kamera seine überragenden Geschichtskenntnisse bezüglich Völkervermischungen, betreibt Stimmungsmache gegen Ausländer unter dem durchsichtigen Mäntelchen des Schutzes der eigenen Volkskultur, die selbstverständlich eine deutsche ist, da ja auch unsere Sprache eine deutsche sei. – Man sollte einmal die Amerikaner fragen, ob ihre Kultur eine englische sei, nur weil ihre Sprache eine englische ist. Die Briten würden den Amis als erste an die Gurgel springen, wollten diese die Frage bejahen. – Und unsere Landesregierung hat zielsicher die Chance verpasst, die neue Herausforderung auf die Ebene einer effektiven Auseinandersetzung zu stellen, indem sie diese überhaupt gleich vermieden hat: Statt ein mutiges, offenes, unbequemes, vielleicht sogar eingestanden ratloses Wort zu riskieren, treten am 6. März die beiden Landesräte Stix und Ehrenhöfler – laut einer Agenturmeldung – vor die Bevölkerung von Kaisersteinbruch, in dessen Kasernen 800 Flüchtlinge vorübergehend einquartiert werden sollen, und verkünden mit dem Gestus des Triumphes, die Kasernen würden für die Unterbringung der Fremden nicht geöffnet, da die Landesregierung nach einhelligem Beschluss ein neues Baurechtsverfahren negativ bescheiden würde. Die mediale Optik wirkte verheerend: Das Wort der obersten Autoritäten des Landes heischte mit einem in der Not des Zugzwangs austaktierten Ausweichmanöver nicht nur nach der Befriedigung einer an Irrationalismus grenzenden Panik unter der Bevölkerung, sondern nützte die Stimmung geschickt für sich, ohne dabei auf das gesellschaftliche Problem selbst eingehen zu müssen. Es suggerierte nicht weniger als: Wir, eure Landeshäuptlinge, wir haben es in der Hand, euch die Ausländer vom Hals zu halten. Mit Applaus konnte gerechnet werden. Ein trauriger Applaus für die traurige Darbietung einer Landesregierung, die dem Dialog von vornherein ausgewichen war, da sie mit Recht erkannt hat, wie viel Sprengstoff er enthält. Das baugesetzliche Argument musste als Befriedigung reichen, somit brauchte ein inhaltliches erst gar nicht gesucht zu werden.

Für den Österreicher vor dem Fernsehschirm wurde die Ablehnung der Ausländer dadurch erstmals offiziös mitgetragen, also auch als politisches Faktum salonfähig. Ein Dorf hatte sich mit billiger Unterstützung der Landesregierung durchgesetzt. Es sollten viele Dörfer diesem Beispiel folgen, es sollte bald ganz Österreich mitsamt seinen Repräsentanten die Tür am liebsten ganz zumachen wollen. Ich will niemanden persönlich Ausländerfeindlichkeit unterstellen. Ich will die Menschen in Kaisersteinbruch nicht verurteilen, denn Angst ist – egal, in welcher Form – immer ernst zu nehmen. Ich will aber sagen: Was uns die burgenländische Landesregierung vorexerziert hat, war nicht so sehr die subversive Ausnutzung des Gesetzes zugunsten der Bevölkerung, als vielmehr der Sieg des Populismus über das Argument – mit für mich tragischer Initialzündung auf ganz Österreich.

Was seitdem an entwürdigender Diskussion rund um unsere emigrierten, so oder so vertriebenen Mitmenschen aus dem Osten passiert ist, wissen wir. Der rote Innenminister lässt mit brüderlicher Unterstützung seiner schwarzen Gesinnungsgenossen des Eisernen Vorhang durch eine 5000-Schilling-Barriere wiedererrichten. Es ist eine Not mit uns, und die Not ist in unseren Köpfen. Kann es sein, dass Reichtum Not macht? Soviel geistige, ethische Not? Dass sich die geistige Not des materiellen Reichtums – und wir können uns in Anbetracht der materiellen Not im überwiegenden Teil der Welt nur als reich, als ungeheuerlich und unziemlich reich, bezeichnen –, kann es also sein, dass sich die geistige Not des materiellen Reichtums in Zynismus äußert? Oder ist es etwas anderes als zynisch, wenn man von jenen, die nichts haben, als Eintrittskarte ins Reich des Habens das verlangt, was sie gar nicht haben können? Ein Minister, Mitglied einer angeblich sozialdemokratischen Partei, schafft es tatsächlich, einen Trennungsstrich zu ziehen, und das effektiv: Es gibt die einen, die haben. Und es gibt die anderen, die haben nichts. Und mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Basta! Ein Glanzstück an Armut fürwahr, die einen erschaudern macht. Schwindsucht der Ethik, Ausverkauf des Gewissens. Erbärmliche und erbarmungswürdige Not des Gefühls und des Denkens. Ein Mann der Regierung, ein Repräsentant des Konsenses der an der Spitze des Staates epidemisch wütenden Erbärmlichkeit. Über einen anderen Verräter mal zwei, beide Parteisekretäre der gleichen verkommenen Partei, sollte hier eigentlich kein Wort mehr verloren werden, würde an ihm nicht evident, dass das Gesetz der Rhetorik und vielleicht demnächst auch das Gesetz des Handelns den ideologischen Köpfen, den eigentlichen Sittenwächtern ihrer Parteien entglitten ist. Österreich, so könnte man sagen, ist reif für die Parole von rechts, bisweilen von ultrarechts. Und je linker die Genossen sich einst gegeben haben, um einen damaligen Linksdrall für sich zu nutzen, umso rechter, glauben sie, müssten sie heute ihre Positionen servieren, damit man sie in der Öffentlichkeit nur ja als die Männer der rechten Politik enttarnen kann.

Wie jüngste Meinungsumfragen, die behechelten Fetische der oberen Politik, kundtun, gibt ihnen der Verrat recht: Josef Cap konnte fünf Prozent in der Akzeptanz des kleinen Mannes und seiner kleinen Frau zulegen, Peter Marizzi sogar acht, während das Ansehen der meisten anderen Spitzenpolitiker ungefähr gleich blieb. Nur Jörg Haider und Heide Schmidt konnten ebenfalls fünf beziehungsweise sechs Prozentpunkte zulegen. Eine feine Gesellschaft. Dem Trend folgend, werden sich in absehbarer Weise bald auch die anderen Spitzenpolitiker zu tendenziös ausländerfeindlichen Stellungnahmen hinreißen lassen, es gibt Wahlen, und nichts heiligt so sehr den Zweck als die Angst vor dem Verlust der Macht. Sollte jetzt etwa gar noch die Ruine an der Spitze unseres Staates Kurti persönlich, die Ausländerfrage zum Philosophieren über volle Boote benützen, dann stünde seiner Wiederwahl schon deshalb nichts im Wege, weil dann die ÖVP selbst an einen neuerlichen Erfolg ihres Herzipinkies glauben könnte. Und Österreich hätte wieder einmal wenigstens in einer Sparte Konsequenz gezeigt: in der Disziplin des Sichblamierens.

Gegenteil von Verantwortung

Freilich, mir sind die Argumente bekannt: Man dürfe Haider nicht die alleinige Ausnützung der ausländerfeindlichen Stimmung in Österreich überlassen. Aber trägt dieses Argument? Kann es sich Österreich leisten, drei tendenziell rechtslastige Parteien zu haben, die ihre taktisch zurecht gelegten Programmatiken wie Hausierer auf jeweilige Stimmungslagen im Wählervolk auslegen? Mich schaudert vor dem Gedanken, dass die Parteien aus Angst vor einem blauen Kärntner Buntspecht die Verantwortung für ein gedeihliches Zusammenleben aller Mensche in Österreich, der hier geborenen wie der hier ansässig gewordenen, aus der Hand geben. Für mich besteht das größte Experiment des Menschen darin, dass er sich beigebracht hat, Verantwortung zu übernehmen, der einzelne für den einzelnen, alle für alle, formuliert im biblischen Grundsatz: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die derzeit praktizierte Form des politischen Populismus ist das Gegenteil von Verantwortung. Er sucht nach Wirkung, ohne eine Ursache dafür zu liefern, indem er bloß Mechanismen benutzt. Indem sie der Verantwortung ausweicht, begeht die Politik Verrat an ihr. Einen neuerlichen Verrat an Österreich, dessen Repräsentanten auch dereinst zu schwach, zu feige oder nicht willens waren, den Verrat abzuwenden. Heute überlassen wir uns abermals dem Lauf der Dinge, so fatal die Einbahnentwicklung in die totale Verwirtschaftung unseres Planeten auch sein mag, wir leisten keinen Widerstand, weil wir die Notwendigkeit von Widerstand nicht erkennen – noch nicht erkennen. Wir rennen wie Kälber den Entwicklungen nach, mit oder ohne Anschluss an die EG, aber ganz bestimmt ohne die neuerdings strapazierte „Qualität des Denkens“, womit hierzulande schon eine einigermaßen eloquente Rhetorik bezeichnet wird.

Visum auf Elend einführen

Dort, wo der Mensch sein selbst gewähltes Experiment der Verantwortung verlässt und verrät, mündet seine Existenz in Krieg, jedenfalls aber in geistiges und mentales Elend, das den Krieg wie eine Todessehnsucht nach sich zieht.

Und ich prophezeie es: Wir werden eines Tages diejenigen beneiden, die „nur“ materielles Elend leiden. Wenn wir so weit sind, dass wir uns materielles Elend schon so wenig vorstellen können, dass wir das der anderen nicht mehr verstehen, dass wir ein Visum auf Elend einführen, weil wir glauben, uns nur so vor ihm schützen zu können – wenn wir tatsächlich so weit sind, dann sind wir längst von einer wesentlich fataleren Seuche befallen, dem Elend und der Armut in unseren Herzen und Köpfen. Unser Neid auf die Armen der Welt wird so groß sein, dass wir mit Knüppeln auf sie einschlagen werden, wo wir das nicht ohnehin schon tun.

Wir sollten begreifen, dass wir die Basis für das Schicksal der zukünftigen weltweiten Konflikte jetzt legen. Erstmals in der Geschichte geht es nicht mehr nur um Gedeih und Verderb einzelner Völker, sonder um das Weiterexistieren der gesamten Menschheit. Und die Katastrophe muss nicht nur eine ökologische sein: Keiner kann sich ausmalen, was geschieht, wenn die Wallungen des Ungleichgewichtes zwischen schreiend armer Welt und unmäßig reicher Welt zum Überkochen kommen. Wenn sowohl Natur als auch Menschen von uns zurückfordern, worum wir sie jahrhundertelang betrogen haben. Wie werden wir dann dastehen und antworten? Ich denke, wir werden uns entscheiden müssen: Entweder wir gehen auf diejenigen, die durch unsere Schuld hungern zu und wagen den Sprung in die Utopie, die uns alle leben lässt – das hieße allerdings, unendlich viele Berührungsängste zu überwinden, was nur dann möglich ist, wenn wir einen großen qualitativen Entwicklungssprung in unseren Köpfen vollziehen – oder wir halten der geschändeten, aufbegehrenden Welt unsere Gewehr- und Kanonenläufe vor die Nase und leiten damit eine Entwicklung ein, neben der Auschwitz wie die Experimentierstube pubertierender Dummköpfe dastehen wird.

Sollte jedoch noch jemand an erstere Möglichkeit glauben, dann frage ich: Wann wollen wir denn damit beginnen, uns auf das Neue, Gewaltige, noch nie Dagewesene einzustellen? Wie und wo wollen wir zur Schule gehen, denn es wird Zeit sein, dass wir Dinge lernen, die wir entweder schon wieder vergessen haben oder noch nicht wissen. Wieso, frage ich weiter, verweigert aber die derzeitige Politik die Verantwortung für das geistige Mithalten in einer sich fundamental verändernden Welt?

Dabei böten uns gerade jene, die aus dem oder einem anderen Grund in unser Land wollen, die Chance, etwas mehr von uns und der Welt zu kapieren. Auch ich hege oft genug Abneigung gegen jene, für die die Insignien unserer Wohlstandsgesellschaft zum Goldenen Kalb ihres Denkens uns Strebens geworden sind. Abneigung, ja sogar Hass. Wieso? Weil sie mir den Spiegel der eigenen Leere inmitten der vollen Regale vor Augen halten.

Wir müssen viel Angst überwinden. Ich finde, wir sollten die Menschen hereinlassen. Alle. Wir sollten uns selbst eine Chance geben. Und uns nicht verraten lassen.