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Offener Brief an Bertie

Der Text war für die Veröffentlichung in der Bezirksrundschau Oberwart (BRO) bestimmt, ist dort jedoch nicht erschienen. Insgesamt bemühte sich die BRO jedoch um eine unbedingt positive Darstellung der Aktivitäten rund um den 10. Jahrestag des Attentats von Oberwart.

25. November 2004

Du hast heute bei Deinem Besuch in der oberwarter Roma-Siedlung (und es klingt fast wie eine Pioniersleistung, dass du den Weg dorthin gefunden hast!) eine fundamentale Erfahrung gemacht: den Rassismus gegenüber der Volksgruppe der Roma. Ein junger Rom hat dir unverhohlen etwas über seine in jungen Jahren gemachten Erfahrungen erzählt: er hat als Elfjähriger Tritte und Schläge von Nicht-Roma-Kindern erfahren und – was seiner Seele offenbar am meisten weh getan hat – die umstehenden Erwachsenen sind nicht eingeschritten, weil es sich bei dem Getretenen um einen Zigeuner handelte.

Das ist Rassismus. Ja. Und wir haben ein Problem. Ja. Mitten unter uns.

Das Problem ist vielschichtig:

Es gibt ein Problem der Gadsche (Nicht-Roma) mit den Roma. Das ist das Hauptproblem.

Es gibt ein Problem der Roma mit den Roma. Das ist auch ein Problem.

Es gibt ein Problem der zugewanderten Ausländer mit den Roma. Das ist ein nicht zu unterschätzendes, vor allem zukunftsträchtiges Problem, weil es sich vorderhand noch hauptsächlich in den Schulen abspielt, auf dem Stellvertreterrücken der Kinder.

Es gibt ein Problem der Roma mit den Gadsche und auch mit den Ausländern. Problem ist Problem.

Und es gibt ein Problem der Gadsche mit den Gadsche. Das ist das Überproblem, unter dem alle anderen Menschen sublim zu leiden haben. Weltweit.

Aber vielleicht gibt es bei all den Problemen auch eine Möglichkeit der Beseitigung eines Problems.

Dein Gang in die Roma-Siedlung von Oberwart war ein für dich persönlich schmerzhafter, aber wertvoller. Du bist in dieser Stadt aufgewachsen, du lebst in ihr. Du schreibst über sie in der meistgelesenen Wochenzeitung des Bezirkes. Du kennst fast jeden Winkel in ihr. Aber du musstest ich weiß nicht wie alt werden, um diese heutige Erfahrung in der oberwarter Siedlung zu machen!

Und auch das ist ein Teil des Problems: wir Oberwarter leben seit Menschengedenken mit Menschen, die wir bis zu einem perfiden Attentat Zigeuner nannten und nachher eher Roma. Die Roma leben seit so langer Zeit als Oberwarter und Österreicher unter uns und doch bei weitem mehr neben uns. Sie sind Bewohner unserer Stadt, sie sind am Wahltag sogar gleichberechtigt mit uns als zählbare Einheit einer Wählerstimme.

Aber was wissen wir von unseren oberwarter Mitbürgern?

Hoffentlich nicht nur, dass sie Zigeuner sind!

Wann haben wir uns denn anders mit ihnen auseinandergesetzt als mit den vermeintlichen Verursachern einer sozialen Diskrepanz, die unter gegebenen Umständen auch blindwütigen Hass erzeugen kann? Unser Urteil lautet im Brustton der Überzeugtheit, so als würden wir die Verursacher unseres Urteils persönlich kennen: Zigeuner sind arbeitsscheu, Schmarotzer – oder doch zumindest: schwer vermittelbar und Sozialhilfeempfänger.

Kennen wir sie als Menschen, als unsere Mitmenschen?

Wissen wir, dass sie (bis auf wenige Ausnahmen) Alkohol verabscheuen und Zigaretten und Kaffee lieben (bis auf wenige Ausnahmen). Kennen wir ihre wissende Heiterkeit, die Wärme ihrer Stimmen und ihrer Küchen (aber auch die Schrillheit ihrer Stimmen und die Hitze ihrer Küchen)? Kennen wir ihren Begriff von Zeit, für den es in ihrer Sprache keinen Begriff gibt?

Nein, ich verwehre mich dagegen: ich bin kein Romantisierer, ich kenne auch ihre Depression und ihre schnelle Bereitschaft zur Resignation und die mannigfachen paranoiden Schlagseiten, die schnell herhalten müssen für ein im Grunde mangelndes Selbstbewusstsein. Weil sich Selbstbewusstsein in einer durch die Nazis beinahe ausgerotteten ethnischen Umgebung gar nicht mehr entwickeln konnte, nicht einmal als trotziger Stolz.

Und ich kenne auch ihre Angst vor Ungeheuern, die weiß sind.

Sie haben - und heute sage ich: im Sinne eines Höheren Rechts! nicht in der Weise Schritt gehalten mit dem wahnwitzig aufgeklärten Habitus unserer sozialen Normen - mit denen wir ja selbst nicht zurande kommen, weil wir langsam nicht mehr wissen, wo sie sich versteckt halten! Sie haben hoffentlich (aber wer weiß!) noch ein anderes Verhältnis zu jener Zivilisiertheit, die uns zu funktionierenden Marionetten eines irgendwie nicht mehr nachvollziehbaren Zeitalters gemacht hat. Darum sind auch ihre Kinder noch nicht so konditioniert wie unsere – und damit paradoxerweise doppelt konditioniert, der Falle unserer vermeintlichen Angebote zu erliegen: Konsum, Konsum, Konsum!

Wir haben so viel mehr Schuld gegenüber unseren österreichischen Mitbürgern, den Roma, abzutragen als von ihnen einzufordern: wir haben sie verjagt und vernichtet. Und wir wollten sie nicht mehr wieder haben. Aber sie sind gekommen und sie sind da. Schon alleine dafür liebe ich sie!

Wir sollten vermitteln, was niemandem bewusst ist: dass es eine Kultur der Roma gibt. Eine manifeste. Aber auch eine, die ihnen trotz Holocaust Überleben ermöglichte als den unauslöschbaren Beweis des eigenen Vorhandenseins. An ihr müssen sich die Jungen aufbauen (komplizierter als man glaubt!) als den Bestand und den Wert des EIGENEN. Sie wären sonst auf Dauer verloren: als Ethnie - und möglicherweise auch als Menschen, als die sie Franz Fuchs erneut heim in den nach „Indien“ verklausulierten Tod befördern wollte. Dieses Wissen um die Bedrohung ihrer Lebensberechtigung ist die tiefere, sentimentale Wurzel des sozialen Problems, das in den Roma schlummert.

Wagen wir wirklich, über ein angebliches oder tatsächliches Drogeproblem bei Romajugendlichen zu urteilen? Wir sollten weniger darüber urteilen als uns mehr damit beschäftigen!

Nun zum Positiven: der heute bereits junge Mann, der als Kind von den Gadsche getreten wurde, ist aufgestanden. Und du hast gesehen, dass er steht! Seine Sprache und seine Gedanken sind so klar, dass sie dir in die Seele geschnitten haben. Recht geschieht dir. Und uns. Das ist das Positive.

Die Unverbesserlichen mögen daheim bleiben. Wir müssen den Weg in die Siedlung finden. Oder woandershin. Zu unseren Mitbürgern, die wir Roma nennen. So wie du heute.

Dein Peter Wagner