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Offener Brief an Vaclav Havel

von Peter Wagner
Deutsch Kaltenbrunn, am 1. Oktober 1990
Der Brief ist in mehreren österreichischen Zeitungen erschienen.

Peter Wagner
7572 Deutsch Kaltenbrunn 131
Österreich

An Vaclav Havel
Präsident der CSFR
Prag
Tschechaslowakei

 

OFFENER BRIEF

Lieber Vaclav,

zunächst einmal, prost! Einen Schluck auf Dich. Und einen auf mich –  und meinen Mut, den großen, viel beschäftigten Kollegen mit einem Brief zu belästigen.

Aber es gibt da etwas, und ich kann nicht umhin, es Dir zu sagen:

Du siehst nicht gut aus, Vaclav. Dein äußeres Erscheinungsbild macht mir Sorgen. Ich habe das Gefühl, Du rauchst zu viel. Trinkst Du auch? Nicht, dass ich Dir deshalb Vorwürfe mache! Und gewiss handelt es sich nur um eine unsinnige Befürchtung, wobei ich unerlaubterweise von mir auf Dich schließe: ich jedenfalls würde ohne Nikotin – und ohne Alkohol sowieso – ein Amt wie Deines nicht über die Runden bringen.

Dennoch – und wenn Du Dich in den Spiegel siehst, müsstest Du es eigentlich selbst wissen:

Du hast als Dissident besser ausgesehen!

Damals hat man Dich – selten zwar, aber doch – in Beiträgen des westlerischen Fernsehens beim Holzhacken, beim Eingesperrtsein, beim Waten durch eine Schneelandschaft sehen können. Beobachtet und verfolgt von jenen Bütteln der Staatsmacht, die Dir heute unterstehen. Damals, als die Welt noch in Ordnung und Vaclav Havel der Dissident war, dem unsere Hochachtung und unser Respekt gegolten hat. Du warst –bei Gott! – nicht nur für die Menschen Deines eigenen Landes der Ausdruck eines Gewissens, das man sich auch bei uns im Westen (und gerade hier!) höchstens noch als einen gewissen exotischen Luxus leistet. Man konnte einen stets unbeugsamen, kämpferischen, liebenswerten Vaclav Havel unverzagt durch die dicke Decke des Schnees der Widerwärtigkeiten stapfen sehen und wieder an die Wirksamkeit und Wichtigkeit ethischer Grundsätze glauben. Wie groß warst Du damals, Vaclav!

Heute, mein mittlerweile noch größer gewordener Kollege, finden die Begegnungen mit Dir zwar häufiger als früher statt, es vergeht kaum eine Nachrichtensendung im Fernsehen, ohne dass ich Dir nicht begegne. Aber es ist nicht mehr so wie früher.

Nahezu täglich erscheinst Du bei mir im Wohnzimmer. Jeweils jedoch nur für zehn, zwanzig Sekunden, wenn Du wieder einmal das Dasein eines anderen Präsidenten mit Deiner Referenz zierst, Hände schüttelst (man kann sich nicht immer aussuchen, welche Hände man schüttelt, ich weiß schon!) oder eine Rede hältst. Von der ich kaum etwas zu hören kriege, weil Dich das Fernsehen so schrecklich zusammen schneidet. So bleibt denn von unserer Beziehung zueinander nichts anderes übrig als eine mich mehr und mehr frustrierende Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit. Du bist also tatsächlich noch flüchtig geworden, Vaclav, und das auf Deine Alten Tage!

Mein lieber Vaclav! Ich bin nach wie vor ein Verehrer von Dir, ich habe nicht einmal gegen die Tränen gekämpft, als Du das Gelöbnis auf die Republik ablegtest. Du, der exemplarische Verlierer, der Du Dich anschicktest, die Ehre aller wahrhaftigen Verlierer zu retten. Nun wird, so fürchte ich mit keinem geringen Bedauern, das Gegenteil passieren.

Einst warst Du Idol derjenigen, die wussten, dass es des Widerstandes und der Utopien bedarf, um die Welt in Bewegung zu bringen, und Du saßest ihretwegen sogar im Gefängnis. Nunmehr bist du vom Idol zum Symbol avanciert (im quantitativen Sinne gewiss ein Aufstieg!): zum Symbol der Postmoderne in der Politik. Die Utopien stellen sich wieder dort an, wo sie der gegenwärtigen Meinung nach – denn die Zeiten sind schwierig, aber wann waren sie das nicht? – hingehören: ganz hinten hin, an das Ende des ganzen Rattenschwanzes der Sachzwänge, die die Funktion der traditionellen Politik übernommen haben – zumindest in der Wirklichkeit der Reichen Welt, an die auch Dein Land nun den wohlverdienten Anschluss vollzieht. Du bist in eine Welt eingetreten, in der Du als Verlierer keine Chance mehr haben wirst. Dir bleibt nur mehr die triste Aussicht auf Erfolg. Und das kann doch nicht alles sein, was Du Dir vom Leben erträumt hast, Vaclav!

Ich kann mir nur Deine Bekümmernis darüber als Ursache dafür erklären, dass Du augenblicklich so schlecht aussiehst. Und Du solltest etwas dagegen unternehmen! Was hast Du schließlich davon, wenn Du vor einem wenig zur Mystifizierung beitragenden Herzinfarkt die Patschen ausstreckst?

Und dann ist das auch so eine Sache mit den Grenzen, die wir abschaffen, und zurzeit leuchtet Dein Nimbus als oberster Grenzenabschaffer der Welt ja noch immer einigermaßen hell. Vielleicht auch nur deshalb noch, weil man intuitiv die eigentliche Wichtigkeit des Künstlers ja doch erkennt: es ist seine Pflicht, an Grenzen zu gehen und sich mitunter sogar über diese hinwegzusetzen, wofür er von seinen Zeitgenossen meist mit Ablehnung geadelt, von seiner Nachwelt eher mit Verehrung bestraft wird.

Der Staatsmann hingegen hat die Pflicht dafür zu sorgen, dass Grenzen gezogen und nicht überschritten werden, es sei denn, er ist dem Größenwahn verfallen. Gerne lässt er sich bei der Ausübung unterstützen vom allmächtigen Argument des Sachzwanges, dessen Exekution er zudem jederzeit mit staatsmännischer Verantwortung zu verwechseln bereit ist – siehe u. a. die weiterhin uneingeschränkte Nutzung der Atomkraft in Deinem Land! Der Staatsmann Havel schweigt, wo der Künstler Havel sich geäußert hätte!

Kurz, lieber Vaclav: ich halte nichts von der Verbindung Staatsmann und Künstler. Denn sie bildet nicht eine Synthese hin zu humanitären Fortschritten, sondern eine Schizophrenie. Und ich halte schon gar nichts von der Schizophrenie an der Spitze der Macht. Der Künstler ist nicht nur Opposition aus Passion, er ist Opposition aus Prinzip. Ohne dieses Prinzip gäbe es keine Kunst. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Du Dich gegen den Künstler zugunsten des Staatsmannes entschieden hast! Oder doch? Dann allerdings verstünde ich Deine Entscheidung, in Deiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der tschechaslowakischen Armee zweihundert Mann einer Spezialeinheit ins Krisengebiet an den Golf zu entsenden. Meine Enttäuschung wäre deshalb freilich um nichts geringer: soviel vorauseilenden Gehorsam hätte ich nicht einmal dem zum Staatsmann mutierten Vaclav Havel zugetraut!

Ich möchte Dir von einer Begebenheit erzählen:

Bei den Arbeiten zu einem Theaterstück („Grenzgänger“ nach dem Hörspiel Deines schon früh aus der Tschechei emigrierten Kollegen Jan Rys) haben zwei in Österreich lebende junge Tschechen, die hier keine Arbeit fanden, mitgeholfen.

Danach gab es ein Fest, weil das Theater sowieso mehr Bauch ist als Intellekt.

Deine beiden Landsleute übergaben mir bei der Gelegenheit ein Präsent: eine Zündholzschachtel, in einem matten Grün gehalten. Darauf Dein Konterfei. Darunter steht geschrieben: „Záruka svobodnych voleb“.

Ich weiß bis heute nicht, was das heißt.

Ich dachte nur: ach, sie schenken mir eine Schachtel mit Zündhölzern drin, darauf der Konterfei des Präsidenten Vaclav Havel! Als hätte man Dich mit George Bush verwechselt und im amerikanischen Wahlkampf verteilt! Das ist ja wohl die größte Frechheit, dachte ich! Vaclav Havel mit Streichhölzern zu identifizieren, die man anzündet, verbrennen lässt und dann ungeniert in den Aschenbecher wirft: es ist der Gipfel der Infamie!

Ich hatte mich getäuscht:

Deine beiden Landsleute hatten die Streichhölzer aus der Schachtel entfernt und ein kleines Stück Stacheldraht hineingelegt.

Ein rostiges Stück Stacheldraht, trotzig in der Streichholzschachtel liegend wie ein Stück Kunst, ein Stück Ästhetik gewordenen Grauens.

Ich wurde nachdenklich: auch wenn Dein Konterfei die Zündholzschachtel ziert, wer weiß denn wirklich, was für eine Überraschung man erlebt, wenn man sie erst einmal öffnet. Ich bin mir sicher, Du wüsstest es selbst nicht!

Nicht, dass ich an Deiner Integrität als Mensch und als Humanist zweifelte. Aber ich habe es sehr bedauert, dass Du die Macht nach den Freien Wahlen in Deinem Land nicht aus der Hand gegeben hast, wie Du es versprochen hattest. Und dorthin zurückgegangen bist, wo Du hingehörst: zur wahrhaft Großer dieses Jahrhunderts geblieben.

Und dennoch, Vaclav, es ist noch nicht zu spät!

Ich fordere Dich auf:

Hol’ Deine Spezialisten vom Golf heim und tritt dann zurück!

Tu’ es, bevor man anfangen muss, auch vor Dir Angst haben zu müssen!

Mach den nächsten Schritt vorwärts und werde wieder das, was Du vor dem Staatsmann warst: der Verlierer, der sich selbst und so vielen anderen Rückgrat ist!

(Ich weiß zwar nicht, ob die Verlierer die Welt retten werden. Ich weiß aber, dass die Sieger es ganz bestimmt nicht tun werden.)

Du bist zwar noch immer einer schöner Mensch, Vaclav, aber ich habe doch gesehen, dass Du nicht mehr so gut aussiehst wie damals, als du von der Burg zum Dom hinübergegangen bist.

Pass auf Dich auf. Und tritt zurück. Und grüß Olga, wenn Du sie siehst. Dein

 

Peter Wagner
Deutsch Kaltenbrunn, am 1. Okt. 1990