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Versuch über das Akribische bei Franz Simon

Von Peter Wagner
8. September 2012, Kulturzentrum Oberschützen
Rede anlässlich der Neuauflage des Buches "Bäuerliche Bauten im Südburgenland" von Franz Simon. 2. Auflage 2012 / edition europrint, Oberwart, ISBN: 978-3-200-02658-2

Ich sehen ihn, den Zeichner, über sein Blatt gebeugt, den Ellenbogen der Hand, die die Feder führt, von sich gespreizt, den Rücken leicht gekrümmt, die Augen zusammen gekniffen. Dabei sehe ich vielleicht gar nicht den realen Franz Simon, sondern einen längst schon abstrahierten, einen idealisierten, der uns, wie wir heute wissen und auch schon bald nach ihrem Erscheinen wussten, zwei große, großartige Kunstbücher hinterlassen hat, er, der Lehrer an südburgenländischen Volks- und Hauptschulen, später der Herr Zeichenprofessor aus dem Gymnasium Oberschützen. Aber aus diesem Bild des über das Zeichenblatt Gebeugten spricht nicht nur der beinahe schon in die Metapher der Hingabe entrückte Liebhaber seines Sujets, aus ihm spricht auch eine gewisse Raubtierhaftigkeit, denn es kann nur einer, der über den unumkehrbaren Willen verfügt, seine Beute zu bezwingen und zu erlegen, zu solch einer zentrierten Zielstrebigkeit, zu solch gestochener Schärfe im Federstrich, zu solch einem Fanatismus in der Erzählung noch des kleinsten Details gelangen. Die Beute des Franz Simon war freilich nicht das andere Tier, es war das Haus, die Behausung mit all der kulturellen Indikation, die ein schlüssiges, ja vielleicht das schlüssige Selbstbildnis des Menschen liefert. Darauf war er zentriert, darauf war sein ganzes Leben zentriert. Er hat das Haus auseinandergenommen, ja er hat es, um den Vergleich mit dem Raubtier erneut zu bemühen, er hat es regelrecht ausgeweidet, um es - und das ist seine künstlerische Leistung, denn wir sollen das Künstlerische nie ganz trennen von seinem infantilen Antrieb! - wieder zusammenzubauen und erneut in die Welt zu setzen.

Als Franz Simon seine Häuser zeichnete, und ich sage nicht ohne Absicht: seine Häuser, da er sie doch im künstlerischen Akt zu seinen Häusern machte, als er also zeichnete, gingen längst andere schon mit einem Fotoapparat durch die Gegend und fotografierten und hielten fest, was bald danach dem modernisierenden Krampen oder der Baggerschaufel zum Opfer fallen sollte. Selbstverständlich ist auch die Fotografie eine Kunstform, sofern sie mit Stimmung und Licht, mit der Akzentuierung der Form zum Inhalt hin agiert. Doch seien wir ehrlich: um wie vieles anrührender und plastischer kommen die Zeichnungen des Franz Simon daher als jede Fotografie, die zwar ein scheinbar objektiveres Bildnis seines Gegenstandes reproduziert, nicht aber den nachgestaltenden Geist des sammelnden und so tief in das Verständnis der Lebensnotwendigkeiten unserer Vorfahren eindringenden Forschers, der den Gegenständen nicht nur die selektive Betrachtung, sondern auch seinen Röntgenblick leiht. Denn tatsächlich geht Franz Simon mit seinen Vermessungen immer auch in den Innenraum seines Satzgegenstandes: der Weinpresse Franz Traupmanns in Heiligenbrunn Nr. 14 beispielsweise widmet er in seinem Buch nicht weniger als drei Seiten mit sechs Zeichnungen. Die Innenansicht des Presshauses zeigt uns, wie schief das alles gebaut wurde, und man möchte sagen: wie wunderbar schief, da das Schiefe noch immer mehr zur Lebendigkeit beiträgt als all das Gerade, dem wir heute verhaftet sind. Der Aufriss auf der nächsten Seite vermisst gnadenlos auf Zentimeter und Millimeter, wobei selbst hier die leichte Schräglage der Presse gut zu erkennen ist. Gleich zwei Zeichnungen widmet er dem Christusmonogramm auf dem Pressbaum, wobei wir erfahren, dass der Zwischenraum zwischen den Schriftzeichen des Monogramms drei Zentimenter beträgt, dass die Buchstaben selbst fünf Zentimeter hoch sind, dass das Kreuz über dem Eta fünfkommafünf Zentimeter hoch und drei Zentimeter breit ist, und dass die Ausmaße des Herzchens unter dem Eta zweikommafünf Zentimeter in der Höhe und zwei Zentimeter in der Breite betragen. In den Zeichnungen fünf und sechs kommt schließlich das Röntgenauge zum Tragen: im Grund- und Seitenriss zeigt er uns anhand strichlierter Linien, wie die Hölzer einander durchdringen, um sich ihre Stabilität und Dichte zu erhalten.

Wir nennen solch eine methodische Vorgangsweise mit Vorliebe akribisch. Wir sagen: er habe durch seine zeichnerische Akribie im Ausloten der Details der untergegangen bäuerlichen Architektur ein Denkmal gesetzt. Ich sage, er hat noch weit mehr als nur ein Denkmal gesetzt: er hat im Vermessen des Details noch dem Unscheinbaren seine stets auch tiefere Bedeutung, seine Sinn gebende Gestalt und seine praktische wie ästhetische Wesenhaftigkeiten zurückzugeben und es dadurch gerettet, ja, nicht weniger als das: er hat das Unscheinbare für uns gerettet, damit wir nicht aufhören, uns in Demut vor der kreatürlichen Intelligenz unserer bäuerlichen Vorfahren zu verbeugen und in unseren Urteilen und Vorurteilen zu bescheiden. Wer diesen pädagogischen, ja moralischen Duktus des Franz Simon nicht sieht, der verkennt das Wesen seiner Hingabe und letztlich auch das Wesen und die Wertbeständigkeit seines Werks.
Er selbst hat im Vorwort seinen Antrieb zu dieser akribischen Durchleuchtung einer kreatürlichen Intelligenz als Vermächtnis seiner Mutter, einer Bauerntochter, bezeichnet. Von ihr, schreibt er, habe er die tiefe Sympathie zur bäuerlichen Welt geerbt. Was kann das für uns, für die diese bäuerliche Welt, von der Franz Simon spricht, ein für allemal verloren ist, heute noch bedeuten? Ich habe schon von der Demut gesprochen, die uns befallen muss, wenn wir uns in Erinnerung rufen, mit welch immer wieder neuer Energie Menschen einen so oder so harten Alltag zu bewältigen versuchten. Ich möchte aber auch von einem Appell sprechen, den diese tiefe Sympathie, die tatsächlich ja aus jedem einzelnen Blatt dieses Buches spricht, an uns richtet, und er ist vielleicht mehr noch ein Auftrag als nur ein Appell:

Lassen wir uns nicht müde machen in unserem gestalterischen Bemühen, so lautet der Auftrag, egal ob es dabei um die Gestaltung unseres Hauses, unseres Alltags, unseres Bewusstseins oder unserer Politik geht! Lassen wir es nicht zu, uns durch den Rückzug in das rein Private der Resignation vor den großen Problemen unserer Gegenwart zu ergeben, mag es sich dabei um Euro- und Wirtschaftskrise, mag es sich um den Skandal eines von uns selbst verursachten Klimawandels oder um die schlichte Überfressenheit der Köpfe und Leiber am Überangebot des Unverdaubaren handeln. Ich persönlich empfinde jedenfalls Trost und Auftrag zugleich beim Durchblättern dieses Werkes. Und damit kann dieses Buch mehr als viele andere Bücher, durch die ich mich in meinem Leben schon bewegte. Franz Simon hat damit, ohne es je intendiert zu haben, einen Klassiker geschaffen - und das heißt: etwas Bleibendes!

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf einen weiteren, begnadeten Naiven unseres Landes verweisen, der zehn Jahre älter war als Franz Simon, für mich aber wie ein Zwillingsbruder neben ihm steht: es ist der Schneider, Bauer, Kapellmeister und Komponist Karl Schönfeldinger, der sein Lebenszentrum nur wenige Kilometer von Oberschützen entfernt in Bernstein hatte. Er hat nicht nur über hundert Märsche, Walzer, Polkas, Landler und damit die feinsten Zeugnisse der musikalischen Volkskultur gesammelt und der Nachwelt überliefert, sondern selbst auch ein reiches kompositorisches Werk hinterlassen. Angeblich komponierte er sogar beim Mistausführen, komponierte es in ihm. So wie es ganz gewiss in Franz Simon unablässig zeichnete, selbst wenn er zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs war. Ich habe Karl Schönfeldinger einmal als ewig Verliebten der Musik bezeichnet, und diese Verliebtheit möchte ich auch Franz Simon attestieren, die ewige Verliebtheit in das freundliche strohgedeckte Bauernhaus, das ihn, seinen eigenen Worten nach, schon in der frühen Kindheit entzückt habe.

Mein Schulkollege aus dem Gymnasium und heutiger österreichischer Botschafter in der Türkei, Dr. Klaus Wölfer, hat mir vor wenigen Tagen erzählt, er habe Anfang der Siebzigerjahre ein Foto geschossen, und zwar in einer Wiener Straßenbahn: da doziere der Herr Zeichenprofessor mit hoch erhobenem Zeigefinger. Hinter ihm in der Reihe sitze ein Schüler mit einem Wuschelkopf, der verdrehe die Augen angesichts des dozierenden Lehrers in der Vorderreihe. Man stelle sich vor, dieser in seine freundlichen strohgedeckten Bauernhäuser verliebte Zeichenlehrer aus Oberschützen, den seine Schüler einigermaßen respektlos „Euler“ nannten, was ich heute als gar nicht so respektlos empfinde, eher als poetische Replik mit mythischem Einschlag auf einen, der nun mal eine große Brille trug, man stelle sich also vor, dieser strohhausverliebte Zeichenlehrer war dazu verdonnert, eine Horde pubertierender Gymnasiasten auf die damals so genannte „Wien-Woche“ zu begleiten und zu beaufsichtigen! Das war vor mehr als vierzig Jahren, also rund um den Zeitpunkt, als das Buch „Bäuerliche Bauten im Südburgenland“ das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Der da so respektlos die Augen verdrehende Wuschelkopf soll ein gewisser Peter Wagner gewesen sein. Für diesen frechen Kerl, lieber Franz Simon, sei dir posthum eine Entschuldigung nachgereicht!

Abschließend möchte ich noch einem Bedürfnis nachgehen, das nach der Erstpräsentation dieses Werkes in mir entstanden ist. Da war von anderen Rednern und auch von der Tochter des Autors die Einschätzung vermittelt worden, Franz Simon sei ein bescheidener Mensch gewesen. Ich denke, das wird er in seinem direkten Auftreten und Herantreten an die Menschen, mit denen er zu tun hatte, wohl auch gewesen sein. Und doch vermag ich in seinem Lebenswerk selbst, das uns in zwei Büchern und jetzt auch einer Neuauflage vorliegt, wenig Bescheidenheit zu erkennen, und ich sage: Gott sei Dank! Wie soll einer bescheiden genannt werden, der so sehr der fixen Idee verhaftet ist, solche gewaltigen Bücher in die Welt zu setzen, ja eine untergehende Welt darin nach Millimeter zu vermessen und dabei nicht zuletzt auch ein beträchtliches finanzielles Risiko zu tragen. Ich würde sagen, solch ein Mann ist im Grunde ganz und gar unbescheiden in seinem Anspruch der Weltvermessung, und ich sage noch einmal: er ist es zu unser aller Glück. Man erinnere sich an den Scherenschnitt, der uns Anton Bruckner zeigt, wie er seinem Meister Richard Wagner die Hand küsst. Im Grunde hätte es auch umgekehrt sein können, aber Richard Wagner war eben ein ausgewiesener Unbescheidener, der nie einem anderen die Hand geküsst hätte. Bruckner hingegen konnte gar nicht anders, als sich nach außen zu bescheiden – und doch im Inneren, im Innersten seiner gewaltigen, gewaltig sich auftürmenden Symphonien die ganz und gar unbescheidene Vorstellung zu kultivieren, der Musikant Gottes zu sein, nicht weniger als das. Allein die Vorstellung, schon als Lebender vor Gott zu stehen und für ihn zu musizieren, müsste allen psychologischen Mustern zufolge als reiner Größenwahn dechiffriert werden, was er freilich nicht ist. Bescheiden ist er allerdings auch nicht. Ich wage zu behaupten, die Antriebe der großen wie auch der nicht ganz so großen Schöpfer, der männlichen und weiblichen Schöpfer, waren, sind und werden nie die bescheidenen gewesen, sonst hätten sie am Ende entweder nichts oder doch nur das Mediokre zustande gebracht.

Und zuletzt: Gratulation euch allen, die ihr die Neuauflage eines originär burgenländischen Klassikers möglich gemacht habt!