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Vom Umkreisen eines Lkws mit toter Fracht

Von Peter Wagner
Artikel anlässlich der Uraufführung der Performance „atem; aus; atmen – Paraphrase auf 71 oder Der Fluch der Primzahl“ von Peter Wagner am 27. August 2017 bei der Eröffnung des Europäischen Forum Alpbach
Erschienen in Der Standard, 26.8.2017

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71 oder Der Fluch der Primzahl - Inszenierung >>

Am 7. April des letzten Jahres saß ich mit dem Obmann des Theatersommers Parndorf, Johann Maszl, und weiteren Personen in Parndorf/Pandrof an einem Wirtshaustisch. Nach Erörterung der wichtigsten organisatorischen Schritte für ein Gastspiel meiner Produktion Der Fluss meinte der Burgenlandkroate Maszl ansatzlos, er verstehe nicht, warum die Kunst noch nichts über die 71 Totengemacht habe. 

Zwei Minuten später skizzierte ich den Anwesenden die Bühne: Zentrales Objekt sollte ein Quader in exakt den Ausmaßen jenes Kühlkoffers sein, in dem am 27. August 2015 an einer Pannenbucht der Autobahn bei Parndorf 71 Flüchtlinge erstickt aufgefunden worden waren. Zwei Wochen nach der Frage Maszls am Wirtshaustisch waren nicht weniger als 21 AutorInnen meiner Bitte, einen Text zur Tragödie von Parndorf zu verfassen, gefolgt. Meine einzige Vorgabe hatte darin bestanden, nicht über den Inhalt des Lkws zu schreiben, sondern über das Drumherum. Titel der Umkreisung, die sich anhand der eingelangten Texte zu einem Stück Theater verzopfen sollte: „71 oder Der Fluch der Primzahl“.

Im Text der damals 26jährigen Theodora Bauer aus Eisenstadt heißt es: 

ich war in alpbach zu dieser zeit. die berge schön und blau, die sonne hell, das forum alpbach eben. ...  ein kühltransporter. ein kühltransporter hörte ich und dachte zuerst, er hat ihn eingeschaltet. nein. die isolierschicht hat die hitze von drinnen abgeschirmt gegen die hitze von draußen, von innen und außen hitze, überall hitze und nirgendwo luft. aber ich sagte schon: keinen gedanken kann man fertig denken. jeder faden verläuft in einer ecke dieses kastenwagens.

Nach anfänglichen Zweifeln an der Sinnhaftigkeit eines Theaterprojekts über die 71 Toten ließ sich der Bürgermeister von Parndorf, Wolfgang Kovacs, die auch finanzielle Kooperation Parndorfs per Gemeinderatsbeschluss absegnen. Gerade zurück aus dem Urlaub, erzählte Kovacs über die Tage nach dem Wahnsinnsfund, hätten zunächst die technokratischen Ungewissheiten dominiert, wie mit solch einem Unglück respektive seinem Ausmaß überhaupt umzugehen sei. So habe er zunächst befürchtet, dass die Gemeinde die Kosten für die Bestattung der 71 Menschen berappen werde müssen, was sich in der Folge als Fehleinschätzung erwiesen habe. Der bewegendste Moment sei aber gewesen, als jenen Menschen, die bis dahin nur Leichen gewesen waren, nach ihrer Identifizierung Gesichter gegeben worden seien, nämlich durch die auf einem Poster aufgeklebten Fotos aus den vorgefundenen Dokumenten der Toten. 

Fast alle, an die in der Folge die Bitte um ein Interview zur Einarbeitung in die Inszenierung erging, rangen mehr oder weniger bereitwillig vor laufender Kamera nach einer Sprache zur Erfassung des bis dahin nicht Gekannten, nicht Gesehenen, ja nicht Gerochenen. Und kaum einer konnte verheimlichen, dass die Begegnung mit diesem Lkw, in dessen Kühlkoffer 71 Menschen buchstäblich zerronnen waren, ihn an die Grenze seiner psychischen Belastbarkeit gebracht hatte. Sie, die dazu da sind, nach dem großen Schlachtfest den Hof wieder auszuräumen, aufzuwaschen und sauber zu machen, betonten zwar gebetsmühlenartig, dass auch das Auf- und Abarbeiten solcher Tragödien Teil ihres Berufes sei. Dennoch war das stete Räuspern, der noch immer ungläubige Blick, ja ein gelegentliches Zucken in den Mundwinkeln bei der Schilderung des im Grunde nicht Erzählbaren kaum zu überhören und zu übersehen. 

Zunächst sollten die Toten in der Parndorfer Autobahnmeisterei der ASFINAG aus dem Lkw geborgen werden. Man hatte dort bereits Abdeckplanen aus dem nächstgelegenen Baumarkt besorgt, doch erwies sich das Verwesungsstadium der Leichen als derart fortgeschritten, dass die tatsächliche Entladung des Lkws nur noch in den Kühlhallen der Veterinärmedizin an der Nickelsdorfer Grenze möglich war. Der dort anwesende leitende Staatsanwalt von Eisenstadt Johann Fuchs: „Ein Opfer nach dem anderen wurde geborgen, bald waren es 20 und man hatte das Gefühl, der LKW sei immer noch voll. Uns war sehr bald klar, dass es ein Vielfaches von 20 sein würde. Es war eigentlich ... unglaublich.“ 

„Die Bilder, die wir da erfahren mussten, waren fürchterlich“, erzählt Werner Burghart, Leiter der Tatortgruppe im Landeskriminalamt und einer derjenigen, die direkt im Lkw die Arbeit dieser Nacht taten. „Auf dieser Ladefläche lagen, ineinander verkeilt, fast verschmolzen, total verunstaltete Menschen. Das Schrecklichste aus meiner Sicht war dieser penetrante, bestialische Gestank.“

Gerhard Zapfl, den roten Bürgermeister von Nickelsdorf, beschäftigte naturgemäß etwas anderes. Es sei zu dieser Zeit schlecht kommuniziert worden, sagt er, er sei permanent damit beschäftigt gewesen, die Nickelsdorfer Bevölkerung auf einem gewissen Wissenstand zu halten, um den sozialen Frieden zu bewahren. Diesen Wissensstand habe er sich selbst zusammenstoppeln müssen, und zwar vorranging durch Kontakte zu Bürgermeisterkollegen in Ungarn, die ihm mitgeteilt hätten: „Pass auf, Gerhard, da kommt etwas! Ich wusste also manchmal mehr als die Polizei.“ Und dann habe er von einem Tag auf den anderen plötzlich 15.000 Leute mitten im Ort gehabt. „Die waren hier, hier! Die Hauptstraße, die Seitenstraßen – das war alles voll mit Menschen. Ich habe nur gewusst, dass ich jetzt handeln muss, und habe versucht, den Bundeskanzler zu erreichen. Die Sekretärin hat mir allerdings mitgeteilt, der Bundeskanzler sei für mich nicht zu sprechen.“

Aber da gibt es nicht nur jene, die Verantwortung für die klimatische Balance in ihren Gemeinden tragen, sondern auch die anderen, die sich ohne Umschweife ein Stück moralischen Imperativs verordnen – und dafür sorgen, dass die WCs in den improvisierten Lagerstätten für die Durchziehenden geputzt sind (wie etwa Johann Maszl) und den Flüchtlingen Nudeln in die leeren Suppen reingekocht werden (wie etwa die freiwillige Helferin Elke Boschner). 

Und es gibt die anderen der anderen. Bürgermeister Kovacs: „Parndorf ist da durchaus kein leuchtendes Vorbild gewesen. Es hat bei uns die gleiche Stimmung wie überall gegeben, die einen sagten: Ja, man muss diesen Menschen helfen, und die anderen sagten: Bitte macht die Grenzen zu, lasst diese Leute nicht herein!“ 

Nur einer verweigerte das Interview zuletzt: der damalige Landespolizeidirektor und im Frühjahr 2016 als Verteidigungsminister inthronisierte Hans Peter Doskozil. Das allerdings schadete dem Ergebnis durchaus nicht. Lieferten doch vor allem die Gesichter all jener Unbekannten, die im Hintergrund das Handwerk des Aufräumens tun, den eigentlichen Mehrwert für die erweiterte Einsicht in eine Tragödie: das penible Arbeiten an toter Fracht – oftmals um den persönlichen „Mehrwert“ schlafloser Nächte. 

Die Prophezeiung, es würde sich niemand in Parndorf für ein Theaterstück rund um die 71 Toten interessieren, weil ja doch jede/r das Thema eher zur Seite schieben werde, erfüllte sich jedenfalls nicht. Die Uraufführung am 4. Jänner 2017 in der 250 Sitzplätze fassenden Aula in der Parndorfer Volksschule war ausverkauft, die Folgevorstellungen im gesamten Burgenland gut besucht. 

Eine Journalistinsollte in ihrer Nachbesprechung noch einen Aspekt hinzufügen: „Nur das offizielle Burgenland glänzte durch Abwesenheit. Landeshauptmann Hans Niessl konnte wegen einer ,Terminkollision´ nicht kommen, sein Stellvertreter Johann Tschürtz befand sich auf Urlaub.

 

Als sich im August 2016 eine ORF-Reporterin anlässlich des ersten Jahrestages der Tragödie nach den Beweggründen für das Projekt „71 oder Der Fluch der Primzahl“ erkundigte, antwortete ich, es sei mir in diesem Fall ein kathartischer Moment wichtig, ein (Wieder)Erleben des Schreckens, um der Möglichkeit einer gewissen Entlastung, ja Reinigung Raum zu schaffen. Als die Kamera abgeschaltet war, meinte sie: „Na, da wünsche ich aber viel Erfolg!“ 

Sämtliche Interviews und literarischen Texte in Originallänge in Siegmund Kleinl, Peter Wagner (Hg.):
71 oder Der Fluch der Primzahl
Edition Marlit / 2017 / 224 Seiten / € 33.- / Buchbestellung >>

Uraufführung der Performance „atem; aus; atmen – Paraphrase auf 71 oder Der Fluch der Primzahl“ von Peter Wagner am 27. August 2017 bei der Eröffnung des Europäischen Forum Alpbach, 14 Uhr – zu sehen auch im Live-Stream über alpbach.org