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Wuchernde Nichterinnerung

Von Peter Wagner
Der Artikel ist als „Kommentar der anderen“ in der Tageszeitung „Der Standard“ erschienen.

Ich hatte meine Mutter eingeladen, am kommenden Sonntag die sogenannte Wehrmachtsausstellung in Graz mit mir und den Leuten vom Offenen Haus Oberwart zu besuchen. Mein Sohn wäre ebenfalls dabei, er würde sich freuen, mit Oma durch die Ausstellung zu gehen.

Meine Mutter ist solchen Gemeinschaftsfahrten selten abgeneigt. Stimmungskanone, die sie ist, kann sie schon mal einen ganzen Reisebus im Alleingang unterhalten.

Diesmal zögerte sie mit der Zusage. Sie rümpfte die Nase: die lange Anreise - man braucht von Oberwart bis Graz eine knappe Stunde -, die möglicherweise großen Wegstrecken zu Fuß, das alles sei ihr zu beschwerlich. Außerdem könne sie meinen Vater nicht den ganzen Tag alleine lassen. Meinen Vater, den ehemaligen Wehrmachtssoldaten. 1948 heimgekehrt aus der russischen Kriegsgefangenschaft.

Einige Tage später brach es dann mit ungezügelter Wucht aus ihr heraus.

„Jetzt zieht ihr uns also auch vor unseren Enkelkindern in den Schmutz. Das waren doch unsere Leute, und die sollen Verbrecher gewesen sein?“

Unsere Leute. Und also auch mein Vater? Und also womöglich auch sie selbst, wenn schon nicht als ausführendes Organ, so doch als Komplizin an der Heimatfront, als hinterländische Göttin des Verderbens?

Das Codewort für ihre Betroffenheit heißt „Verbrechen“. Plötzlich taucht da ein monströser Begriff in den viskösen Fluss der Erinnerung: ein verbotener Umarmungsakt, der im leidenschaftlichen Kuss mitten auf den feuchten Mund des Bösen gipfelt.

„Wer von uns hätte denn etwas wissen können von dem, was mit den Juden wirklich passiert? Wir haben das alles nachher erst erfahren, weil die ja auch alle nicht heimgekommen sind. Wo sollen die schließlich auch geblieben sein? Aber viele glauben es heute noch nicht.“

Das hatte schon einmal anders geklungen.

Im Herbst 1981 waren zwei Neonazis in das Haus im Südburgenland eingedrungen, in dem meine Lebensgefährtin und ich damals wohnten. Es war zwei Uhr morgens, sie standen plötzlich im Zimmer, in dem unser wenige Monate alter Sohn an der Brust seiner Mutter lag. Sie drehten um, offenbar überrascht von diesem Anblick, und ließen im Vorraum und im Hof zwei Kanonenschläge, das sind etwa zehn Zentimeter lange, rollenförmige Knallkörper mit einer Lunte, detonieren. Auch in ein anderes Zimmer, in dem sie offenbar meine Person vermuteten, warfen sie einen Kanonenschlag, der aber nicht sorgfältig genug gezündet wurde. Ich fand ihn anderntags mit angesengter Lunte unter meinem Bett. Sie sprangen wieder in das Auto, das mit laufendem Motor vor dem Haus stand. In ihm befanden sich noch andere Personen.

Eine Nachbarin, die kurz zuvor von der Diskotheke nach Hause gekommen war, hatte den Vorfall durch die Roulleaus beobachtet (am Land beobachtet man prinzipiell das meiste durch die heruntergelassenen Roulleaus) und das Auto als einen hellblauen VW-Käfer identifiziert. Ich selbst kam etwa eine Viertelstunde nach dem Vorfall von einer Veranstaltung in Großpetersdorf nach Hause.

Der hellblaue VW war weder meiner Lebensgefährtin noch mir fremd. Wir kannten seinen Besitzer als einen einigermaßen aggressiven Mann mit ausgeprägtem neonazistischen Gedankengut. Noch bevor ich die Anzeige bei der Gendarmerie Großpetersdorf erstattete, wollte ich mit dem Mann persönlich reden. In seiner Wohnung in Stegersbach, deren Wände Poster von ausgebrannten Tanks zierten, wurde ich, meinen Sohn auf dem Arm, von seiner Schwester empfangen. Der Herr selbst ließ sich verleugnen.

„Spiele dich nicht mit den Nazis!“

Das war die erste Reaktion meiner Mutter auf den Vorfall. Der Schrecken kauerte wie ein Affe in ihrem Gesicht. Es war kein Augenblick, in dem sie um die Worte rang, sie quollen völlig unzensiert aus ihr heraus. „Wir alle haben gewusst, was mit denen passiert, die abtransportiert wurden. Gleich am Tag nach dem Anschluss kamen die ersten fort. Die Nazis kennen keinen Pardon.“ (Bei den ersten Abtransportierten handelte es sich um burgenländische Roma.)

Ich gehöre zu jenen hunderttausenden Töchtern und Söhnen in Österreich, die auf ihre Fragen nach der Hitlerzeit kaum, jedenfalls ungenügende Antwort von ihren Eltern erhalten hatten. Plötzlich hatte ich eine Antwort! Noch dazu von jener Person, von der ich sie seit Jahrzehnten am nachdrücklichsten, weil vergeblichsten eingefordert hatte: erst die konkrete Bedrohung ihres Sohnes durch einige wahrscheinlich besoffene Neonazis hatte sie möglich gemacht. Selten war meine Bestürzung über die Konsistenz des Verdrängten größer: wie vehement wucherte doch die Nichterinnerung, wie genau wusste sie im Grunde über das Verbrechen Bescheid!

 Ein Prozess wegen Hausfriedensbruches fand übrigens nie statt, obwohl die Täter ermittelt waren und einer von ihnen über ein Jahr von der Stapo observiert wurde. Ein Bekannter, der der Sache nachgegangen war, teilte mir mit, dass das Innenministerium einen Prozess gegen Neonazis nicht für opportun hielte, da es in Österreich kein Neonaziproblem gäbe. Das war 1982.

Seit dem Vorfall sind sechzehn Jahre vergangen. Ich habe meine Mutter nie wieder nach der Hitlerzeit gefragt. Mein Hass auf das ursprünglich gereizte Beschweigen der Vergangenheit hatte sich nach ihrem überraschenden Geständnis in ein mitleidiges Verstehenwollen verkehrt. Ich ging davon aus, dass ich das Wesentliche wusste. Makabererweise hatten mir zwei Neonazis dabei geholfen. Und auch meiner Mutter - wie ich meinte.

Diese Einschätzung war ein Fehler. Ich hatte viele Bücher über diesen Krieg gelesen, ich wusste tatsächlich einiges. Aber ich ahnte das wenigste. Ich bin noch immer der Meinung, dass die Ahnung das stärkere Wissen ist. Heute bedauere ich es, dass ich nach der Warnung meiner Mutter nicht erst recht auf alle meine persönlichen Fragen an sie als Mitglied der Hitlerfamilie beharrt hatte. Wir hätten noch sehr viel mehr voneinander erahnen können, hätten wir uns den wesentlichen Blick in unsere Abgründe zuletzt nicht doch wieder erspart - wofür leider ich selbst die Hauptverantwortung trage.

Gestern versuchte ich noch einmal, meine Mutter davon zu überzeugen, dass mit der sogenannten Wehrmachtausstellung keine Pauschalverurteilung der Kriegsgeneration gemeint sei. Ich stand von vorneherein auf verlorenem Posten.

Oder vielleicht auch nicht.

„Es war so schrecklich, der ganze Krieg, wir wollten nichts mehr davon wissen“, sagte sie, während ich die Suppe löffelte, die sie gekocht hatte.

Ich glaube ihr mittlerweile beides: dass sie alles gewusst hat, und dass sie nichts gewusst hat. Das mag sich vordergründig ausschließen. In diesem Fall bedingt es sich.

Auch das war das Verbrechen des Krieges: er hat seine Mitläufer verschreckt und einsam zurückgelassen. Und es hat niemand etwas getan, ihnen im Laufe der Jahrzehnte den Schrecken und die Einsamkeit zu nehmen. Sie versuchten, sich beides selbst zu nehmen, indem sie sich mit der Wendigkeit von Mäusen ein Wirtschaftswunder zur Ablenkung schufen. In diesem hatten die Fragen der Töchter und Söhne keinen Platz. Möglicherweise haben diese auch nur die falschen Fragen gestellt. Oder aber die richtigen Fragen in falscher Weise.

Mein Sohn ist mittlerweile fast siebzehn. Ich werde am kommenden Sonntag mit ihm die Ausstellung besuchen. Zum erste Mal, obwohl ich reichlich Gelegenheit gehabt hätte, sie schon bei früherer Gelegenheit zu sehen. Ich kann allerdings nicht behaupten, dass ich mich sonderlich auf dieses Ereignis freue. Das macht es für mich Nachborenen so wichtig.

Meine Mutter hat mir mittlerweile definitiv abgesagt.