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Gott Kabel
der Stuhl und
die Klarheit

Stück von Peter Wagner

„Shlabbesz“, Preis des Internationalen Hörspielzentrums in Rust
Uraufführung: 26. November 1993 im Theater des Augenblicks Wien
Besetzung: Michaela Galli und Thomas Kamper
Bühne: Erich Sperger, Musik: Peter Kaizar, Kostüme: Hans Tschiritsch, Maske: Elisabeth Preindl, Hospitanz: Nina; Produktionsleitung & PR: Markus Lidauer, Produktion: Pro Arte
Regie: Thomas Kamper
Alle Rechte für das Stückmanuskript seit 2004 wieder beim Autor.

Textauszug >>
Buchausgabe „Tetralogie der Nacktheit“ >>

Inhalt

Aus der Programmankündigung, THEATER DES AUGENBLICKS: Kabel, ein Jude, der das KZ überlebt hatte, ist als alter Mann gestorben. In einem Zwischenreich begegnet er Gott, seinem Gott, der ein junges Mädchen ist, vielleicht seine unerfüllte Jugendliebe.

Kabel, der sich schon am Ziel glaubt, wird von der Hölle seines Lebens eingeholt. Mit dem Mädchen, diesem dämonischen zugleich sehr menschlichen Kindgott, durchlebt er alle Schrecken seiner Vergangenheit. Er, das Opfer, wurde zum Täter, als ihn die SS zwang, ein Kind halbtot zu schlagen. Das Stück handelt von Schuld und Schuldgefühlen, von Liebe und dem Verlangen nach Erkenntnis.

GOTT: Ich will nur eines: Klarheit über das Ausmaß der Welt, die ich aus meinem Bauch geboren habe.

Von der Eindeutigkeit zur Zweideutigkeit zur Vieldeutigkeit – zur Umsetzung

Thomas Kamper, REGIE: Der Text, aus Erzählung, Dialogen und Wechselreden bestehend, lässt sich nach dem musikalischen Vorbild der Suite gliedern. Wobei jeder Tanz – einer eigenen Gesetzmäßigkeit folgend – über sich hinaus, zu den anderen Tänzen in Beziehung stehen soll.
Das Bemühen um eine reale Grundsituation veranlasst dazu, Gegenstände auf die Bühne zu stellen, die das leichte Erfassen eines Ausschnitts aus einer bestimmten Wirklichkeit ermöglichen. Diese Wirklichkeit wird sich bald verändert haben. Schließlich werden auch die Gegenstände ihre Bedeutung verändern, um sie zuletzt ganz zu verlassen. Das Licht soll diesen Vorgang unterstützen und den Zeitablauf suggerieren.

Der Raum soll breit, tief und hoch genug sein, um keine falsche Enge zu erzeugen. Die Nähe der Körper zueinander ist dann eine wirkliche Nähe. Ebenso verhält es sich mit der Entfernung der Körper voneinander.

Der Anfang des Stücks setzt eine Vertrautheit zwischen den beiden Personen voraus, die erst aufgebaut werden muss. Diese Funktion hat das Präludium, die Exposition der realen Grundsituation. Der Anfang selbst ist durchwoben von einer fast unendlichen Zärtlichkeit, die bis zum Auftauchen der ersten Irritationen, des ersten zaghaften Vorwurfs, des ersten leichten Zynismus möglichst lange dauern soll.

„Bin ich schön?“ – „Ja.“ Die beiden Protagonisten lösen sich aus einer Menschengruppe, kommen zur Tür herein, scheu und glücklich. Die Stimmen der Menschen von draußen, gäste oder Besucher, verstärken zunehmend die Einsamkeit der beiden. Nach der Generalpause (vor dem Satz: „Der Junge, er hat dir übrigens verziehen.“) wird der Tanz immer wilder. Der Tanz ist hier die innere Struktur; das innere Tempo wird immer panischer, das Spiel ist längst zum Metaspiel geworden.

Die betörende Klarheit wird erschreckend, die Linien der Figuren beginnen voneinander abzuweisen, treffen sich nur mehr zufällig, kollidieren, werden streitbar. Die Figuren durchtanzen alle Stadien einer Beziehung, auch deren Stereotypen, vom Kind bis zum Greis.

Denn dieser Gott ist nicht nur launisch, üppig, barbarisch, sondern auch ein Kind, das auf einen Thron geschubst wurde, ein geprügeltes und verlassenes Kind: die Schwester, die sich um den Fall Kabel kümmert, die Tochter, die dem toten, um sein Leben betrogenen Vater die Augen schließt.

Kabel trägt einen feinen Anzug. Seine Stimme ist gebrochen. Je mehr er sich entkleidet, desto mehr von seinem geschundenen Leib wird sichtbar.

Und umso mehr verändern sich auch die Gegenstände: Das Zimmer ist zunächst das Zimmer eines Menschen, der Bücher schreibt, um das schlechte Gewissen der Gesellschaft zu beruhigen. Ein Zimmer, das Geschmack, Gediegenheit und Wohlstand vermittelt, wird dann zu einem Anstaltszimmer, wobei die Gegenstände (Stuhl, Bett, eine Bücherwand, ein Tisch mit Obst und Büchern, als Verbindung nach draußen ein Fenster, eine Tür) ihre Bedeutung noch behalten. Zuletzt werden die Bücher zu Akten, die Bücherwand zu einem Archiv, das Bett zur Pritsche, der Stuhl zum Folterplatz, das Obst zur letzten, einzigen Nahrung, die Tür zur Waggontür, hinter der die Stimmen der Eingepferchten schreien. Das Fenster, einst Symbol der Hoffnung, wird zur unüberwindlichen Grenze.

Erst wenn Gott Kabel nackt ist, gibt es nichts als den Leib, und die Grenzen des Raumes lösen sich auf.

Der kleine weiße Punkt – zum Text

Thomas Kamper, REGIE: Ein Text kann verschiedene Funktionen in einem theatralischen Akt haben – dieser Text wird Ort des Aufbruchs und zugleich das Ziel einer Reise sein: einer Forschungsreise, deren Gegenstand eine Beziehung ist.

GOTT: Ja. Das Licht ist beides: Hoffnung und Verderbnis.
KABEL: Ich hielt mich an die Hoffnung. Und ich tat gut daran. Ich habe überlebt.
GOTT: Was hast du überlebt? Nichts hast du überlebt. Schweig!

Der Text versucht, sich einem Thema zu nähern, über das sich nicht sprechen lässt. Seine Worte stellen sich dem Ungeheuerlichen, ohne Eitelkeit, tapfer scheiternd mit dem Brandmal der Notwendigkeit. Er ist ein dichtes Geflecht, ein dramatisches Gedicht, das nach sinnlicher Vergegenwärtigung verlangt.
Seine Intimität ist seine Größe. Die Aufmerksamkeit auf zwei Menschen, von denen der eine nichts ist ohne den anderen, von denen der eine jeweils Gott des anderen ist, zeugt eine Gegenwart als Spiegel, in dem Vergangenheit lesbar wird – unausweichlich.
Alles vordergründig Messbare, das dazu dient, dem Gesellschaftssystem ein paar Krokodilstränen herauszupressen, als Krücken verweigernd, zieht er sich zurück mit seinen unvernarbten Wunden. Er zieht sich zurück von allem Demonstrativen, das neben diesem Text zu Aufmärschen, Festreden und Blasmusikkapellen verkommt. Zurück auf einen kleinen, weißen Punkt:

KABEL: Er alleine weiß, warum er es tut. Sein Wille ist das Gesetz der Welt.
GOTT: Und das Gesetz der Welt ist grausam.
KABEL: Er ist auch voller Liebe.

Mit dem verzweifelten Hymnus, mit der Kraft, die er verlangt, mit der Kabel seinen Peinigern zum Trotz versucht, Gott von Gott zu überzeugen, muss heute ein Spiel begonnen werden! Und wie in diesem Stück das Leben vorbei ist, hebt sich das Spiel vom Leben ab, indem die Zeit sich ihrer selbst bewusst wird.
Das Spiel – diese schmerzliche Rettung – ist ein Mittel zur Erkenntnis, Klarheit, wie es im Stück heißt, und wird zu einem Ausdruck entfesselten Denkens, zu einem Akt anarchistischer Religiosität. Denn im selben Maße, wie in diesem Stück die Vergangenheit Gegenwart wird, verliert Gott seine Allwissenheit. An deren Stelle tritt die Vorstellungskraft, um zu schauen, was Worte noch können, was das Spiel noch kann.

GOTT: Dein Spiel ist ungenau!
KABEL: Spiel, Herr?

In dieser Frage sind Kabels Entsetzen und Hoffnung zugleich. Das Spiel ist unser kleiner weißer Punkt, er ist unendlich.

Pressestimme

Lona Chernel, WIENER ZEITUNG:Zwischen Tod und Erlösung – Seltsame Parabel im Theater des Augenblicks
Stücke, die sich mich Gott und Jenseits beschäftigen, wie solche, die Opfer von Gewaltherrschaft in den Mittelpunkt stellen, sind meist problematisch. Der österreichische Autor Peter Wagner (Jahrgang 1956) hat sich in seiner Parabel „Gott Kabel der Stuhl und die Klarheit“ gleich beides aufgebürdet.

Die Handlung: Ein alter Mann, der einst das KZ lebend verließ, kommt nach seinem Tod in ein Zwischenreich, in dem er einem kindlichen „Gott“ begegnet, seinem ganz persönlichen Richter, aus seinem schlechten Gewissen geboren, da er im Konzentrationslager auf Befehl ein Kind brutal schlug, dabei obendrein in einen Gewaltrausch kam und den Knaben fast zu Tode prügelte. Diese Tatsache versucht er zu verschleiern, bis das Wesen ihm gegenüber ihn zwingt, seine Schuld zu bekennen. Darauf folgt allerdings nicht die Erlösung, sondern er muss sich immer mehr physisch und psychisch entkleiden, eine Strafsanktion wohl, dem Fegefeuer vergleichbar. Schließlich taumelt er, völlig erschöpft, hinaus, einem Licht entgegen.
So weit klingt es klar und logisch. Doch ist dies nur eine von vielen möglichen Deutungen. Das Ganze könnte auch gottesleugnerisch, menschenverachtend oder frauenfeindlich (der launische „Kindgott“ ist eine Frau) gemeint sein. Zu unklar bleibt alles, zu verschwimmend sind die Grenzen.
Thomas Kamper, der auch selbst ungemein präsent und intensiv den Kabel spielt, inszenierte einfallsreich, doch vielleicht manchmal zu verwirrend gekünstelt. Michaela Galli gibt dem weiblichen Kindogtt viele Nuancen. Von bestechender Klarheit ist das Bühnenbild von Erich Sperger. Peter Kaizar steuerte zu dieser Produktion im Theater des Augenblicks die Musik bei, Hans Tschiritsch die Kostüme.


Textauszug

  • Sieh mich an. K hebt den Kopf. Bin ich schön?

  • Herr, ich sagte bereits ...

  • (Spuckt ihm den Kern einer Traube ins Gesicht.) Gefällt dir das?

  • Ich bin zu klein.

  • Antworte!

  • Herr, es steht mir kein Urteil zu. Ich bin zufrieden.

  • Du bist zufrieden, ich bin es nicht!

  • Was kann ich tun, um Deiner Aufmerksamkeit würdig zu sein?

  • Antworte! (Bespuckt ihn mit einem Kern.) Gefällt dir das!

  • Du bist der Herr. Ich bin ein Sünder. Ist es Dein Wille, mich der ewigen Verdammnis anheimzustellen, so werde ich Deinen Willen in mich nehmen.

  • Vorher will ich, dass du mit mir kämpfst!

  • Ich, der Sünder, soll meine Hand gegen Dich, meinen Gott, erheben?

  • Wieso nicht, wieso eigentlich nicht!

  • Es geziemt dem Profanen nicht, sich mit dem Ewigen zu messen.

  • Und also geziemt es dem Ewigen nicht, sich mit dem Profanen zu messen. Was willst du mir da einreden! (Gibt K einen Tritt.)

  • Herr, ich bin so oft getreten worden, man bekommt Routine im Ertragen des Schmerzes. Er ist das tägliche Brot des Überlebenden.

  • Und es schmerzt dich nicht doppelt, dass ich dich trete? Dass Gott seine vom Schicksal getretene Kreatur am Ende auch noch tritt?

  • Er alleine weiß, warum er es tut. Sein Wille ist das Gesetz der Welt.

  • Und das Gesetz der Welt ist grausam.

  • Es ist auch voller Liebe! Die Hauptstadt ist letztlich doch gefallen. Das Unrecht wucherte sich zu Tode. Auch wenn es die Menschen zu Verdammte machte für alle Zeit. Dennoch ist die Hauptstadt gefallen, und es fallen alle Hauptstädte irgendwann. Auch das ist Gottes Botschaft. Ich habe ihr stets vertraut. Ich verstehe, dadd Du mich, Deinen Knecht, prüfen willst.

  • Schon gut. (Sie setzt sich auf den Stuhl.) Iss von dem Obst. Tu, was ich sage. (K streckt die Hand nach dem Obst, sie zieht die Schüssel weg.) Iss von dem Obst! (Er streckt die Hand nach der Schüssel, sie zieht sie erneut weg.) Fünf Hiebe, Kabel, wenn du jetzt nicht isst! (Er streckt die Hand nach der Schüssel, sie zieht sie ihm weg.) Nun gut. Fünf Hiebe auf dem Bock, Du willst es nicht anders.

  • Herr!

  • Was.

  • Ich bin ein Sünder. Ich habe zeitlebens versucht, Gottes Geboten zu entsprechen. Ich gestehe, dass es mir nicht immer einfach war, Deinen Willen zu erkennen. Ich war zu klein. Herr, schenk mir die Größe, Deine Hiebe zu empfangen, mit Freude zu empfangen, ihrer würdig zu sein. Denn sie sind von Dir, meinem Gott.

  • Hast du jemals aufbegehrt gegen deine Peiniger?

  • Ich habe sie verflucht! Mehr hatte ich nicht. Nein, ich habe nicht aufbegehrt, ich wollte leben, ohne ein Held zu sein, ohne ein Verräter sein zu müssen. Ich erkenne kein Unrecht darin!

  • Dennoch quälten dich Schuldgefühle ein Leben lang. Wieso, Kabel?

  • Ich weiß nicht, Herr!

  • Antworte!

  • Warum hast du überlebt, fragten die Schwären meines Gewissens, warum hast ausgerechnet du überlebt, Häftling Kabel, Nr. 086573. Es waren so viele wie ich, keine Helden und keine Verräter. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen habe ich die Hauptstadt verlassen, aufrechten Ganges. Hatte ich überhaupt ein Recht dazu? Machte mich das Überleben nicht verdächtig? War ich nicht doch zu einem Verräter geworden, zu einem Verräter an all den grausam verreckten, zu Tode geprügelten, erschossenen, verhungerten, vergewaltigten, vergasten und verbrannten Schicksalsgenossen? Und ausgerechnet ich habe überlebt, ist das wahr? O nein, Herr, ich habe keine Sekunde gezögert, Dir zu danken, Du hast mir das Leben gerettet. Und dennoch hatte ich, trotz aller Dankbarkeit, zeitlebens gegen ein merkwürdiges Gefühl anzukämpfen. Gott anerkennt deinen Dank nicht, sprach etwas in mir, seine Aufmerksamkeit hat sich mit der Gnade erschöpft, die er den Überlebenden zuteil werden ließ. Du hast die Gnade Gottes empfangen und mit ihr die Einsamkeit. Und tatsächlich, so war es. Als ich die Hauptstadt verließ, wähnte ich mich nicht so sehr gerettet als das erste Mal von Gott verlassen. Ich spürte, dass er seine millionenfach krepierten Kinder, seine unschuldig Verschlungenen mehr liebte als die, die er dem Tod entrissen hatte. (Er wirft sich zu Boden.) Verzeih, Herr, mein unwürdiges Empfinden. Du bist der Ursprung des Lichtes. Du gibst es, Du nimmst es. So wie Du alles gibst und alles nimmst.

  • Auch die Prügel deiner Peiniger?

  • … auch die Prügel.

  • So bin ich ein Peiniger?

  • Ja, Herr, auch das bist Du in Deiner Unendlichkeit. Deine Pfade sind verschlungen, wir alle geraten auf der Suche nach dem Heil und der Wahrheit unweigerlich in die Irre. Der eine mehr, der andere weniger.