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HugoHugo, ein Skelett auf Reisen

Märchen von Peter Wagner
Gesendet in zwei Teilen von ORF-Studio-Burgenland
Sprecher: Michael Heltau

I.

„Göttlich, göttlich!“ kreischte die Hexe, als man sie bat, sie möge doch etwas genauer von der Welt draußen erzählen. Sie war die Einzige unter allen Geistern in der Geisterbahn im Prater zu Wien, die die Welt draußen mit eigenen Augen sehen konnte. Zwar auch nur dann, wenn die Bahn in Betrieb war, und sie, auf ihrem Besen reitend, über den Balkon flog, um Besucher anzulocken – aber selbst dieser kleine Ausflug brachte ihr hohes Ansehen unter den Geistern ein. Es war jedoch unmöglich, mehr aus ihr herauszuholen. „Göttlich, göttlich!“ das war alles, was sie zu verraten bereit war.
Hugohugo, dem Skelett, war das Gekreische der Hexe im Laufe der Jahre und Jahrzehnte lästig geworden. Immerhin existierte die Geisterbahn schon fast hundert Jahre lang, und noch immer wusste er von der Welt draußen nicht mehr, als dass sie von so genannten Menschen bevölkert war, die mitunter ihren Spaß daran hatten, in die Welt der Geister einzudringen. Hier muss gesagt werden, dass es jedes Mal einen fürchterlichen Aufruhr unter den Geistern gab, wenn ein Wägelchen mit Menschen die Geisterbahn durchquerte. Die Geister selbst erschreckten sich mehr vor den Menschen als diese sich vor den Geistern. Selbst der geköpfte Menschenfreund setzte sich vor lauter Schreck jedes Mal schnell den Kopf auf, ehe das Fallbeil ihn wieder vom Körper trennte. Nur der Vampir vermochte in dieser Situation gelassen zu bleiben. Es hatte wenigstens den Anschein. Er schob den Deckel seines Sarges langsam beiseite und verzog sein Gesicht, derartig lächelnd, dass dabei jedes Mal seine fürchterlichen Eckzähne zum Vorschein kamen. „Alles nur Einbildung“, murmelte er, als das Wägelchen an ihm vorbeigefahren war, und zog den Deckel des Sarges wieder zu.
„Wir Geister in der Geisterbahn sind von Menschenhand geschaffen“, antwortete das geköpfte Haupt des Menschenfreundes, wenn Hugohugo sich bei ihm nach den Menschen erkundigte. „Wir kennen sie zwar nur als kreischende und johlende Ungeheuer, die sich von uns das Gruseln beibringen lassen, doch in Wirklichkeit sind die Menschen anders, ganz anders.“ Wie sie nun tatsächlich waren, das vermochte das geköpfte Haupt allerdings nicht zu sagen. „Sie sind“, wiederholte es, „Sie sind einfach anders.“
Das kostete dem Vampir in seinem Sarg ein mildes Lächeln. Mit tiefer, nicht zu überhörender Stimme raunte er aus seinem Sarg heraus: „Er will uns alle verrückt machen. Menschen, wie er sie nennt, gibt es gar nicht. Auch die Wägelchen, die angeblich unsere Geisterbahn durchqueren, gibt es nicht. Das sind Hirngespinste, die unsere Phantasie erfindet, damit uns die Langeweile nicht auffrisst. Alles Einbildung, nichts als Einbildung!“
„Keine Einbildung!“ zirpste die Jungfer mit den blauen Lippen und dem blutbefleckten weißen Kleid. Sie pflegte ihren Kopf im gähnenden Rachen des Wolfes zu verstecken, wenn sich ihr ein Wägelchen näherte. Dies sah für den Besucher der Geisterbahn natürlich so aus, als würde der Wolf die Jungfer fressen. „Mich hat eine Hand angefasst. Und ich weiß genau, dass es die Hand eines Menschen aus seinem Wägelchen war!“ Aber ganz so sicher war sie sich dann doch wieder nicht.
Hugohugo, das Skelett, zersprang fast vor Neugierde. So viel wurde von der Welt draußen geredet, und niemand wusste wirklich Bescheid. Er fand es längst langweilig, ewig mit den gleichen Mitgeistern hier drinnen in der Geisterbahn zu leben. Der Vampir und der geköpfte Menschenfreund stritten in einem fort; die Eule auf dem Sargdeckel half dem Vampir und gab dem Menschenfreund Recht; die Jungfer fürchtete sich vor den Menschen und vor dem Wolf und wusste doch nichts besseres, als sich in den Rachen des Wolfes zu flüchten; Der Wolf selbst war nichts als langweilig; die Spinne hatte nur die eine Sorge, ob es draußen in der Welt auch Spinnen gäbe, die so schön waren wie sie; und die Schlange wackelte stets nur mit dem Kopf hin und her. „Ich will weg von hier“, sagte sich Hugohugo. „Ich werde die Welt kennen lernen!“
Zum Glück war an der Hängevorrichtung, an der er baumelte, gerade eine Schraube locker. So war es nicht schwer, sie herauszuschrauben und sich von dem Gestänge loszumachen. Still und heimlich machte er sich eines Nachts, als die anderen Geister tief schliefen, auf und davon. Er fand eine Ritze, durch die er entkommen konnte. Nur die Hexe hörte er noch einmal schrill kichern. „Göttlich“, rief sie, „göttlich!“

II.

Zunächst war nirgendwo ein Mensch zu entdecken. Aber man darf nicht vergessen, dass es tief in der Nacht war und Hugohugo sich noch immer auf dem Gelände des Praters befand. Er erfreute sich an den Laternen, die er für funkelnde Sterne am weiten Himmelszelt hielt. Von ihnen hatte ihm das geköpfte Haupt des Menschenfreundes schon oft genug erzählt.
Doch es dauerte nicht lange, da entdeckte er in einiger Entfernung eine Gestalt, die genauso aussah, wie das geköpfte Haupt des Menschenfreundes die Menschen beschrieben hatte. Hugohugo schritt mutig auf sie zu.
„Guten Tag, Herr Mensch!“ sagte er ergeben, „ich bin hier, um die Welt und die Menschen kennen zu lernen. Können Sie mir etwas davon erzählen?“
Der Herr Mensch, der übrigens seine lustige Fratze mit der knallroten Stupsnase nicht ein bisschen verzog, begann wie ein wiehernder Gaul zu lachen. Hugohugo erschrak derartig, dass er auf der Stelle davonlaufen wollte. Der Herr Mensch schrie ihm nach: „Was hast du denn, du Hasenfuß, hiergeblieben! Ich bin froh, wenn sich einer mit mir unterhält!“
Hugohugo schämte sich, ängstlich gewesen zu sein, und kam zurück.
„Kennst du mich nicht?!“ posaunte der lustige Kauz. „Ich bin der Watschenmann, meines Zeichens die berühmteste Figur der ganzen Welt!“
Hugohugo hörte aufmerksam zu, als der Watschenmann von sich zu erzählen begann.
„Ich bin dazu da, um einen Schlag nach dem anderen in’s Gesicht zu kriegen. Gäbe es mich nicht, die Menschen müssten sich fortwährend selbst in’s Gesicht schlagen.“
„Tut denn das nicht weh?“ fragte Hugohugo nach einigem überlegen.
„Wie man’s nimmt!“ Der Watschenmann lachte wieder wie ein wiehernder Gaul. „Ich habe natürlich schon manche gesehen, die mit einer geschwollenen Hand von hier nach Hause oder zum Arzt gegangen sind.“
„Ich meinte, ob es dir nicht weh tut“, fragte Hugohugo, der sich sicher war, dass ihn der Watschenmann missverstanden hätte.
„Mir?“ Der Watschenmann lachte schon wieder. „Schläge zu kassieren ist mein Beruf“, sagte er stolz, „und meinen Beruf nehme ich verdammt ernst!“
Dann aber wurde der Watschenmann bedenklich ruhig. „Eigentlich“, sagte er, „hat mich überhaupt noch kein Mensch danach gefragt, ob es mir weh tut oder nicht, wenn ich in einem fort geschlagen werde. Nicht einmal ich selbst habe mich bisher gefragt. Du bist der erste, und auch du bist kein Mensch.“
Hugohugo sah, dass der Watschenmann traurig war. Eine dicke Träne lief über seine geschwollene Backe. „Sie brauchen immer jemanden“, schluchzte er, „und wenn sie mich nicht schlagen, dann schlagen sie sich selbst. Mich schlagen sie ja auch nur, weil sie sich selbst schlagen!“
„Sind alle Menschen so?“ fragte Hugohugo, obwohl er die Frage augenblicklich wieder bereute. Mit jedem Wort schien er den armen Watschenmann tiefer in’s Elend zu stürzen.
„Alle“, jammerte dieser, „alle Menschen sind so. Ich habe sie nur so und nicht anders erlebt. Wie könnten sie da anders sein als so?“
„Das kann ich nicht glauben“, sagte Hugohugo. Er schickte sich an, weiterzugehen, und wiederholte die Worte des geköpften Menschenfreundes: „Die Menschen sind anders, ganz anders!“ Er setzte sich in Bewegung, nicht ohne dem Watschenmann vorher noch einmal zugewunken zu haben.
„Du wirst schon sehen, wie sie sind!“ rief ihm der verheulte Watschenmann nach und begann jetzt merkwürdigerweise wieder aus voller Kehle zu lachen wie ein wiehernder Gaul. So laut, dass ihn Hugohugo noch lange Zeit hörte. Auch dann noch, als dieser längst außer Hörweite war.

III.

Es war Tag geworden. Die Sonne guckte tiefrot hinter dem Horizont hervor. Hugohugo begann zu laufen, er hielt die Sonne für einen großen Ball und wollte ihn einfangen, um mit ihm zu spielen. Je weiter er jedoch lief, umso weiter weg schien der Ball zu sein. Er lief nur umso schneller und bemerkte dabei gar nicht, wie das Leben rings um ihn erwachte.
Plötzlich ließ ihn ein schrilles Quietschen mit einem darauf folgenden Krachen bis in’s Mark erschrecken und erstarrt stehen bleiben. Aus einem Blechauto sprang ein Mann heraus, ging auf einen zweiten Mann zu, der ebenfalls aus seinem Auto stieg, und schrie ihn wild an: „Sie sind mir hinten draufgefahren, Sie Idiot, was haben Sie mit meinem schönen Auto gemacht!“
„Sie sind schuld“, schimpfte der angeschrieene zurück, „warum steigen Sie auch so abrupt auf die Bremse?!“
Inzwischen hatte sich hinter den beiden in den Unfall verstrickten Autos eine lange Schlange von wartenden Autos gebildet, die mit ihren Hupen weit mehr Lärm machten, als die Sirenen in der Geisterbahn – und die war schon kaum zum Aushalten.
„Ich musste wegen dieses Kerls da bremsen!“ schrie der erste Autofahrer und zeigte wütend auf Hugohugo, der noch immer so erschrocken dastand, dass er sich keinen Schritt weiterbewegen konnte.
„Er ist schuld“, rief ein Fußgänger und zeigte ebenfalls auf Hugohugo, „Ich habe gesehen, dass er bei Rot über die Kreuzung gelaufen ist!“
Da war auch schon ein Polizist zur Stelle. Er stolzierte gemächlich um Hugohugo herum, blieb vor seiner Nase stehen, zog langsam einen Notizblock aus seiner Brusttasche, notierte die Einzelheiten des Unfalls und sagte mit gelernter Höflichkeit: „Ihren Ausweis, mein Herr!“
„Ausweis?“ stotterte Hugohugo, so gut es nur ging, und fügte kleinlaut hinzu: „Ich habe keinen Ausweis.“
„Jeder Mensch hat einen Ausweis zu haben!“ sagte der Polizist mit nun schon etwas strengerer Stimme.
„Aber ich bin doch kein Mensch“, sagte Hugohugo ebenso kleinlaut wie zuvor.
„Was Sie sind, ist mir egal“, sagte der Polizist. Seine Höflichkeit war längst verflogen, er wippte sogar auf den Zehen auf und ab. „Ich will Ihren Ausweis sehen. Und wenn Sie keinen haben, muss ich Sie leider festnehmen!“
Er packte Hugohugo am Oberarm und stieß ihn in sein Polizeiauto. Auf dem Polizeiposten saß ein Beamter hinter einem Schreibtisch, beugte sich über ein Formular und stellte Fragen.
„Vorname?“ sagte der Beamte.
„Hugo“, sagte Hugohugo.
„Nachname?“
„Hugo“, antwortete Hugohugo.
„Geburtsdatum?“
Hugohugo schwieg. Das wusste er nun beim besten Willen nicht.
„Irgendwann müssen Sie ja geboren sein! … Na gut, schreiben wir: Geburtsdatum unbekannt. Beruf?
„Ich bin ein Geist“, antwortete Hugohugo, da er bei der Wahrheit bleiben wollte.
„Soso!“ Der Beamte schmunzelte. „Sie sind also Schauspieler?“ Hugohugo sagte nichts. Er dachte sich, dies sei wohl die Bezeichnung für einen Geist. Der Beamte betrachtete ihn von oben bis unten und notierte in die Spalte „Nähere Personenbeschreibung“ auf dem Formular: „Sieht aus wie ein Skelett.“
„Ich nehme an, Sie haben Ihren Ausweis verloren“, sagte der Beamte.
„Ja“, antwortete Hugohugo, ohne lange zu zögern und um nicht in den Verdacht zu geraten, in Wirklichkeit nie einen Ausweis gehabt zu haben.
„Sie werden einen neuen Ausweis erhalten. Vorher müssen wir allerdings die Angaben zu Ihrer Person noch genau überprüfen.“ Damit verschwand der Beamte und kehrte erst nach einiger Zeit wieder zurück. „Es tut mir leid“, sagte er, „Wir können Ihnen keinen Ausweis ausstellen. Ich habe in allen Karteien und Registern der Welt nachgesehen, aber es gibt keinen Hugohugo mit unbekanntem Geburtsdatum, der Schauspieler ist und aussieht wie ein Skelett. Ich muss Ihnen mitteilen, dass es Sie gar nicht gibt. Leider, mein Herr, aber Sie sind überhaupt nicht auf der Welt!“
„Ich stehe doch vor Ihnen!“ sagte Hugohugo energisch, da er nicht einsehen wollte, dass es ihn nicht geben sollte.
„Sehen Sie“, erwiderte der Beamte, „Ich bin nur ein Beamter und habe nur zu glauben, was auf dem Papier steht. Und auf dem Papier steht, dass es Sie nicht gibt!“
„Wünschen Sie sonst noch etwas?“ murrte der Beamte etwas später, als er Hugohugo noch immer dastehen sah. „Verschwinden Sie gefälligst!“
„Aber ich bin doch schuld an dem Unfall!“ sagte Hugohugo trotzig.
„Jemand, den es gar nicht gibt, kann auch nicht schuld an einem Unfall sein“, knurrte der Beamte, beugte sich wieder über seinen Schreibtisch und hatte Hugohugo schon vergessen.

IV.

Als Hugohugo den Polizeiposten verließ, war er sehr verwirrt. Er ging eine Weile die Straße entlang, setzte sich jedoch bald auf den Gehsteig nieder, um nachzudenken. Dabei beobachtete er einen Mann, der einen großen Karren vor sich herschob. Er ließ den Karren nach jeweils einigen Metern stehen, entnahm ihm einen großen Besen und kehrte. Zwischendurch stützte er sich auf den Besen und rauchte eine Zigarette. So arbeitete er sich langsam an Hugohugo heran, bis er knapp vor dessen Zehenknochen stand. Er schob die Kappe in’s Genick, nahm einen kräftigen Zug von der Zigarette und sagte: „Eine Menge Arbeit heute.“
„Wer sind Sie?“ fragte Hugohugo und bewunderte den mächtigen Besen, auf den sich der Mann stützte.
„Ich bin der Straßenkehrer“, sagte der Straßenkehrer, „Ich kehre alles von der Straße, was nicht auf die Straße gehört. Papierschnitzel, alte Zeitungen, Zigarettenschachteln, Cola-Dosen, Laubblätter, mit einem Wort: Alles, was unnütz auf den Straßen und Gehsteigen liegt. Ich werde es dir zeigen!“
Hugohugo war glücklich, dass sich endlich ein Mensch um ihn kümmerte und ihm etwas von der Welt zeigte.
„Schau her“, sagte der Straßenkehrer, „Ich nehme diesen Zigarettenstummel aus meinem Mund, den Besen in die Hand, hole die Schaufel aus dem Karren und kehre den Stummel, dessen Glut ich soeben auf dem Gehsteig ausgetreten habe, mitsamt der Asche auf die Schaufel. Jetzt lehne ich den Besen an den Karren, packe die Schaufel mit beiden Händen und befördere den Stummel mit der Asche in den Karren.“
Der Straßenkehrer strahlte über das ganze Gesicht. „Siehst du, so einfach ist das. Und doch ist es die wichtigste Arbeit der Welt. Wäre ich nicht da, die Menschen müssten an dem, was sie tagtäglich wegwerfen, glatt ersticken!“
Er nahm wieder seinen Besen und begann, über Hugohugos Fußknochen zu kehren.
„Was machen Sie da?“ fragte Hugohugo und kicherte, da ihn die Borsten des Besens kitzelten.
„Ich kehre dich zusammen“, sagte der Straßenkehrer.
„Mich, warum mich?“ fragte Hugohugo erstaunt. „Ich bin doch kein Zigarettenstummel!“
„Das bist du nicht“, sagte der Straßenkehrer mit bedächtiger Miene. „Aber ich habe dir gesagt, dass ich alles in meinen Karren fege, was nicht auf die Straße gehört. Und da du kein Mensch, keine Laterne, kein Auto, kein Fahrrad, kein Zeitungsständer, kein Verkehrsschild und kein Papierkorb bist, gehörst du in meinen Karren.“
„Ich bin immerhin ein Skelett!“ sagte Hugohugo empört.
„Das sehe ich“, erwiderte der Straßenkehrer, „Aber ich habe noch nie davon gehört, dass Skelette so ganz einfach auf der Straße sitzen dürfen. Man könnte nämlich auch sagen, dass du ein Haufen von Knochen bist. Und Knochen habe ich in jedem Fall von der Straße zu fegen. Vorschrift ist Vorschrift.“
Der Straßenkehrer bat Hugohugo, sich flach auf den Gehsteig zu legen, damit er ihn besser auf die Schaufel kehren könne. Hugohugo tat, worum ihn der Straßenkehrer gebeten hatte. Er war viel zu neugierig, als dass er einfach aufgestanden und weggelaufen wäre. Der Straßenkehrer kehrte ihn auf die Schaufel und warf ihn zum anderen Unrat in den Karren. Dann schob er den Karren wieder einige Meter weiter.
„Was geschieht jetzt mit mir?“ fragte Hugohugo und blickte schüchtern aus dem Karren hervor.
„Zuerst kommst du in einen Müllabfuhrwagen“, sagte der Straßenkehrer, während er weiterkehrte. „Dann wirst du in eine Müllverwertungsanlage gebracht. Dort kommst du in einen großen Ofen, wirst verbrannt und in Energie umgewandelt.“
„Was ist Energie?“ fragte Hugohugo, dem bereits Böses dämmerte.
„Mit Energie werden Maschinen angetrieben. Und da wir ohne Maschinen nicht mehr leben können, können wir auch ohne Energie nicht mehr leben“, antwortete der Straßenkehrer mit nachdenklichem Blick und stützte sich erneut auf seinen Besen.
„Und was passiert mit mir?“
„Danach“, der Straßenkehrer schob die Mütze wieder in den Nacken, „Danach bist du Luft.“
Jetzt aber hatte es Hugohugo so eilig wie noch nie. Mit einem Satz war er aus dem Karren gesprungen und lief so schnell, wie ihn seine Beine tragen konnten. Luft, das wollte er unter gar keinen Umständen sein. Verbrennen wollte er genauso wenig. Und Maschinen anzutreiben, das war eigentlich auch nicht der Sinn und Zweck seiner Reise in die Welt.
Er hörte zwar noch den Straßenkehrer ihm nachschreien, dass es ganz und gar unerlaubt sei, sich als Straßenunrat so einfach auf- und davonzumachen. Doch das kümmerte Hugohugo längst nicht mehr!

V.

„Hallo Sie!“ Hugohugo spürte, dass ihm jemand auf das Schulterblatt tippte. Er drehte sich um und sah eine junge Frau vor sich stehen. „Verzeihen Sie, dass ich Sie anspreche“, sagte die junge Frau mit der dicken Brille auf der Nase und lächelte verlegen, „Aber wissen Sie…“ Sie konnte vor lauter Aufregung gar nicht sprechen. „Ich bin eine arme Studentin und will einmal Ärztin werden. So lange halte ich schon Ausschau nach einem Skelett, das erstens gut erhalten und zweitens nicht allzu teuer ist. Wissen Sie, jeder Arzt braucht ein Skelett für sein Studium, und ich habe noch immer keines.“
„Wollen Sie mich vielleicht auch verbrennen?“ fragte Hugohugo misstrauisch. Denn eines hatte er mittlerweile schon begriffen: Es war immer besser, in der Welt der Menschen eine Frage mehr zu stellen als eine zu wenig. Die junge Frau mit der Brille kicherte kurz und sagte: „Verbrennen? Wo denken Sie hin! Ach wäre es schön, wenn Sie für Immer und Ewig mein Skelett bleiben könnten. Ich habe noch so viel zu studieren, bis ich alles weiß, und da ist es schon besser, wenn Sie so lange wie möglich bei mir bleiben. Wir beide werden miteinander leben, nur Sie und ich. Ach“, seufzte sie, „Wird das schön sein!“
Hugohugo war einverstanden und zufrieden. Endlich ein Mensch, der ihn nicht nur beachtete, sondern auch brauchte. Darauf war er jetzt besonders stolz. Und er legte die Knochen seines Armes auf ihre Schultern und ließ sich von ihr nach Hause führen.
Dort schlug die junge Frau mit der Brille sogleich ein großes dickes Buch auf.
„Was ist das?“ fragte Hugohugo und deutete auf das dicke Buch.
„Das ist ein Buch“, sagte die junge Frau, „Darin steht, wie jeder einzelne Knochen eines Skeletts heißt.“
Sie nahm die Hand Hugohugos und tastete einen Knochen nach dem anderen ab. „Das hier sind die Fingerknochen“, sagte sie, „Das hier sind die Mittelhandknochen, das die Handwurzelknochen. Hier ist die Elle, und das hier ist die Speiche.“ Jedesmal, wenn sie einen Knochen benannte, zeigte sie mit dem Zeigefinger darauf und hielt ihn ganz knapp vor die Augen, da sie von dem vielen Lernen aus dem dicken Buch schon sehr kurzsichtig war. „Und das hier ist der Ellenbogen! Das der Oberarm...“
„Warum interessieren Sie meine Knochen?“ fragte Hugohugo.
„Wenn ich nicht jeden einzelnen Knochen kenne, bestehe ich meine Prüfungen nicht“, antwortete sie. „Und dann werde ich nie Ärztin werden und nie kaputte Knochen reparieren können. Das sind die Rippenknochen, hier ist das Schulterblatt…“
Hugohugo sah ihr anfänglich neugierig zu, aber allmählich begann es ihn zu langweilen, den Namen jedes einzelnen seiner Knochen zu hören. Er hätte sich mit der jungen Frau gerne über so viele andere, interessantere Dinge unterhalten.
„Was ist das da?“ Hugohugo zeigte auf einen viereckigen Gegenstand mit Tasten und Knöpfen.
„… das sind die Halswirbeln, die Kreuzwirbeln…“
„Nein, ich meine das da!“
Die junge Frau mit der dicken Brille war sichtlich verwirrt. „Ich glaube“, stotterte sie, „Das ist ein Radio. Aber sicher bin ich mir nicht, ich habe ihn noch nie angeschaltet, weil ich immer nur lerne. Ich habe keine Zeit für andere Dinge.“
„Was ist ein Radio?“ Hugohugo wurde umso neugieriger, je weniger er verstand.
„Was ist ein Radio, blöde Frage!“ Die junge Frau war völlig aus der Fassung. Zu sehr hatte Hugohugo sie mit seiner Fragerei von ihrem Studium der Knochen abgelenkt. Um weitere Fragen zu vermeiden, schaltete sie das Radiogerät an. Hugohugo zuckte zusammen, als das viereckige Kästchen plötzlich zu sprechen begann: „Und nun, liebe Kinder, ist wieder eure Zeit gekommen. Ihr hört jetzt das Märchen „Ein Skelett auf Reisen“ von Peter Wagner. Es liest ….“
„Solch ein Unsinn!“ meckerte die junge Frau mit der dicken Brille empört und schaltete das Radiogerät gleich wieder aus. Hugohugo drängte energisch darauf, das Märchen aus dem Kästchen zu hören. Die junge Frau jedoch hatte keine Zeit mehr für seine Wünsche. „Das ist das Scheitelbein, das Schläfenbein, das Jochbein, das Nasenbein…“
Hugohugo stand auf und ging. Er hatte wieder etwas mehr von den Menschen verstanden und wusste noch weniger als vorher. „Hier bleibe ich nicht“, sagte er sich. „Der Mensch da braucht mich ja nur, um seine Prüfungen zu bestehen.“
Die junge Frau war derartig mit seinen Knochen beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie Hugohugo aufgestanden und gegangen war. Sie tänzelte ihm leichtfüßig nach, die Treppen des Hauses hinunter, die nächste Straße entlang. „Das ist die Kniescheibe, das Wadenbein, das Schienbein, der Knöchel … he, wo gehen Sie denn hin?!“
Da war Hugohugo schon hinter der nächsten Ecke verschwunden.

VI.

Eines Tages stieß Hugohugo auf einen kleinen Wanderzirkus, der an einer Kreuzung, an der die Straßen in alle vier Himmelsrichtungen auseinandergingen, Rast machte. Hugohugo ging von einem Wagen zum anderen und bestaunte die Raubtiere in ihren Käfigen, den Tiger, den Löwen, den Bären, den Elefanten. Sie alle waren merkwürdig ruhig und traurig. Auf der Wiese schlug ein Artist einen Salto, doch er landete auf dem Hintern. „Es ist zu traurig“, sagte er und schüttelte den Kopf. An einer anderen Stelle versuchte ein Mädchen auf einem zwischen zwei Bäumen gespannten Seil zu tanzen. Sie rutschte immer und immer ab. „Es ist zu traurig“, seufzte auch sie. Der Jongleur tat sich mit seinen rotierenden Tellern, Flaschen, Ringen so schwer, dass alles in Trümmer ging. „Es ist zu traurig“, stöhnte auch er und ließ den Kopf bis zu den Knien hängen.
Auf einem großen Fass saß der dicke Zirkusdirektor in Frack und Zylinder. Er hielt eine Peitsche in der Hand, doch sie knallte nicht. Auch er schüttelte nur den Kopf. Hugohugo näherte sich ihm und fragte vorsichtig: „Was ist los mit Ihrem Zirkus?“
„Es ist zu traurig!“ klagte der Zirkusdirektor und begann bitter zu schluchzen. „Gestern ist uns der Clown gestorben, heute haben wir ihn begraben.“ Er begann noch heftiger zu schluchzen. „Wir sind ruiniert, stehen hier an dieser Kreuzung und wissen nicht, in welche Richtung wir fahren sollen. Überall in der Welt wird man uns auslachen. Mit Recht! Was für ein Zirkus ist ein Zirkus ohne Clown? Gar keiner.“
Er schluchzte so heftig, dass auch die Tiere in ihren Käfigen fürchterlich zu heulen begannen. Hugohugo hätte am liebsten mitgeheult, so sehr tat ihm der ganze Zirkus leid. „Sagen Sie mir“, sprach er zum Zirkusdirektor, „Sagen Sie mir, was ich zu tun habe! Ich will der Clown Ihres Zirkusses sein!“
Der Zirkusdirektor holte ein Taschentuch, das größer als die Zeltplane des Zirkusses war, aus der Hosentasche und schnäuzte sich. Er musterte Hugohugo vom Scheitelbein bis zum Fersenknochen. Dann verzog er den Mund zu einem breiten Lachen.
„Haha!“ rief er mit grimmiger Stimme, „Seht ihn euch an! Dieses Gerippe will unser Clown sein!“
Alle Artisten begannen laut zu lachen, ja sogar die Tiere sprangen aufgeregt in ihren Käfigen herum und lachten aus voller Seele. Dem Artisten gelang ein meisterhafter Salto, die Seiltänzerin tanzte auf ihrem Hochseil wie ein Engel mit Flügeln, der Jongleur jonglierte mit allen Tellern, Ringen und Flaschen gleichzeitig. Und da Hugohugo sie in dieser so traurigen Stimmung zum Lachen gebracht hatte, geschah es, dass er tatsächlich der Clown des Zirkusses wurde. Man brach noch am selben Tag auf. Am liebsten wären sie alle in alle vier Himmelsrichtungen gefahren, doch da dies nicht möglich war, beschloss man, der Sonne nachzufahren. Immer der Sonne nach, neuen , glanzvollen Zeiten entgegen.

VII.

Das Leben im Zirkus gefiel Hugohugo. Und die Menschen lachten über ihn. Er wusste zwar selbst nicht ganz genau, warum man über ihn, ein ganz gewöhnliches Skelett, so sehr lachen konnte, dass er bei jeder Vorstellung seinen Auftritt zwei- und dreimal wiederholen musste. Doch da man über Clowns nun einmal lachen soll, war er stolz darauf, dass man auch tatsächlich über ihn lachte.
Vor jedem Auftritt musste sich Hugohugo eine knallrote, kugelrunde Gumminase an’s Nasenbein binden und eine rotweiß-gestreifte, bis zur Kniescheibe reichende, knochenenge Badehose anziehen. Dann legte man ihm eine Sense über die Schulter und schickte ihn so in die Manege. In diesem Augenblick ging ein ungläubiges Raunen durch das Publikum. Doch als Hugohugo mit dem Unterkiefer und den Zähnen zu klappern begann, wie es ihm der Zirkusdirektor befohlen hatte, hub ein ungeheuerliches Lachen im Publikum an und hörte nicht mehr auf. Nun musste Hugohugo, noch immer mit dem Unterkiefer klappernd, die Sense von der Schulter nehmen. Man kann sich vorstellen, das dies für ein Skelett ohne Muskeln nicht eben die leichteste Arbeit war. Ihm fiel schon das Tragen der sense schwerer als einem Menschen das Heben eines Zementsackes. Nun sollte er mit der Sense auch noch zu mähen beginnen, oder wenigstens so tun, als würde er mähen, da es ja in der Manege gar kein Gras zum Mähen gab. Kaum hatte er also mit der Sense ausgeholt, da musste er dem Schwung der Sense mehr gehorchen als dieser ihm – und es schlug ihn jedes Mal fürchterlich in den Sand. Die Zuschauer aber tobten schier vor Lachen.
„Hurra!“ schrien sie wie wild gewordene Affen, „Seht euch dieses lächerliche Skelett an, nicht einmal die Sense kann es schwingen!“
Das Zirkuszelt drohte unter ihrem Lachen beinahe einzukrachen, als Hugohugo bei seinem neuerlichen Versuch, die Sense zu schwingen, derartig auf’s Gebiss fiel, dass ihm die Klinge der Sense zwischen den Rippenknochen in den Brustkorb fuhr und hinten aus dem Rücken ragte. In diesem Augenblick explodierten unter seinen Knochen einige Knallfrösche, die die Angestellten des Zirkusses blitzschnell geworfen hatten. Hugohugo erschrak jedes Mal derartig, dass er nur mehr an die Flucht dachte. Noch ehe er sich auf die Beine machen konnte, fiel von oben ein großes Netz über ihn und fing ihn ein wie ein Fischnetz einen Schwarm Fische im Meer. Nun begann das Publikum mit Tomaten und faulen Eiern nach dem im Netz gefangenen Skelett zu werfen. Hugohugo war, als man ihn aus der Manege zog, von oben bis unten voll gekleckert und brauchte jedes Mal dringend ein Bad.
Mit einem Schlag war er die große Attraktion in der Manege geworden. Immer mehr Zuschauer kamen, um das „einzige lebende Skelett der Welt“ – wie es nun hieß – mit eigenen Augen zu sehen. Immer mehr Geld floss in die Zirkuskasse, immer größere Pläne konnte der Zirkusdirektor schmieden und verwirklichen. Bald war der kleine Wanderzirkus kein kleiner Wanderzirkus mehr, sondern zehn mal so groß, mit zehn mal mehr Tieren, zehn mal mehr Artisten, zehn mal mehr Angestellten als am Anfang.
Der Zirkusdirektor war ein kluger Mann. Er wusste nur zu genau, dass jeder einmal die Lust an seiner Arbeit verliert, wenn er stets das Gleiche machen muss. Und tatsächlich war Hugohugo längst nicht mehr so begeistert davon, von den Menschen ausgelacht und mit faulen Eiern beworfen zu werden. Nun fürchtete der Zirkusdirektor, sein stärkstes Zugpferd und sein größte Attraktion, das Skelett Hugohugo, könnte sich eines Tages auf- und davonmachen. So kam er auf die Idee, ihn wie ein Raubtier in einen ausbruchsicheren Käfig zu sperren. Man ließ ihn nur heraus, und auch dann nur unter strengster Bewachung, wenn er seinen Auftritt hatte. Die übrige Zeit musste er in seinem engen Käfig bleiben.
Das machte Hugohugo natürlich sehr unglücklich. Immer öfter dachte er zurück an die alte Geisterbahn. An den Vampir, der glaubte, das alles sei nur Einbildung, war er jetzt und hier draußen in Welt an den eigenen Knochen zu spüren bekam. An den geköpften Menschenfreund, der immer nur sagte: „Die Menschen sind anders, ganz anders!“ An die Hexe, die in einem fort kicherte und „Göttlich, Göttlich!“ rief, wenn man sie bat, von der Welt draußen zu berichten. Hugohugo verstand nun viel besser, was die Hexe damit eigentlich meinte. Nämlich: Teuflisch, teuflisch!

VIII.

Ein einfacher Trick half Hugohugo, seinem Käfig zu entkommen. Er wurde müder und müder, es fiel ihm immer schwerer, die Knochen zu bewegen, und am Ende gelang es ihm nicht mehr, die Sense, die man ihm vor jedem Auftritt auf die Schulter legte, zu tragen. Er brach schon vor dem Eintritt in die Manege zusammen. Der ganze Zirkus war in Aufruhr. „Hugohugo ist krank!“ rief man und befürchtete das Allerschlimmste, das auch prompt eintrat. Eines Tages bewegte er keinen Knochen mehr, nicht einmal das intensivste Kitzeln an seinen Knochen erweckte ihn wieder zum Leben. Die Raubtiere verstummten, der Zirkusdirektor begann bitter zu schluchzen, der Saltospringer landete wieder auf dem Hintern, die Seiltänzerin purzelte vom Hochseil, der Jongleur zerbrach die Teller. Die Zirkuskapelle spielte einen Trauermarsch, als man Hugohugo in einen Sarg legte und zu Grabe brachte.
Natürlich war Hugohugo nicht tot. Er hatte sein Sterben nur gespielt, da er darin die einzige Möglichkeit sah, dem furchtbaren Käfig zu entkommen. Aber auch das Grab war nichts anderes als ein Gefängnis, nur noch viel kälter und dunkler. Noch dazu war er in dem Sarg so fest eingeschlossen, dass er sich unmöglich aus eigener Kraft befreien konnte. Eines Tages jedoch, als der Sarg durch die Feuchtigkeit der Erde morsch geworden war, streckte ein kleiner Wurm seinen Kopf herein.
„Ach, wie gut schmeckt dieses Holz!“ sagte der Wurm und schmatzte, bis er ein ganzes Loch in den Sarg gefressen hatte. Hugohugo erzählte ihm seine Geschichte, klagte ihm sein Leid, und schon war der Wurm verschwunden und mit einer ganzen Schar von Erdbewohnern zurückgekehrt. Gemeinsam halfen nun Holzwurm, Maulwurf, Feldmaus, Schnecke und Käfer, ein Loch bis an die Erdoberfläche zu graben, durch das Hugohugo bequem wieder an’s Tageslicht klettern konnte. Er bedankte sich bei seinen Helfern und verließ rasch den Friedhof, um von niemandem entdeckt und wieder in den Zirkus zurückgebracht zu werden. Er versteckte sich bei Tag und wanderte bei Nacht. Sein Ziel stand fest: Zurück in die Geisterbahn. Dort wollte er sich ausruhen und von seiner Reise in die Welt der Menschen erholen. Er hatte jedoch den Weg zurück längst vergessen und irrte nächtelang einfach umher.
Eines Nachts wurde er noch einmal aufgehalten. Er schritt gerade die Straße entlang, als ihn aus einem finstern Eck eine Stimme anschrie: „Ha, da bist du also, du räudiger Geselle!“
Hugohugo fuhr erschrocken zusammen und drehte sich ängstlich nach der Stimme um. Er sah einen Mann daliegen, der eine große Flasche in der Hand hielt: „So lange habe ich auf dich gewartet!“ schrie der Mann und lachte, dass es Hugohugo entsetzlich mulmig zumute wurde. „Und jetzt bist du endlich da, mein Liebster. Na, setz dich zu mir! Wir trinken noch einen und dann bin ich für immer dein.“
Hugohugo verlor allmählich seine Ängstlichkeit. Immerhin hatte ihn der Mann mit der Flasche soeben „Mein Liebster“ genannt und tat so, als hätte er sehnsüchtig ausgerechnet auf ihn, Hugohugo, gewartet. Er setzte sich zu dem Mann und wurde von ihm stürmisch umarmt.
„Trink!“ lachte der Mann und hielt ihm die Flasche an die Zähne. Hugohugo machte einen Schluck, doch der Schnaps war so scharf, dass er glaubte, daran verbrennen zu müssen. Der Mann lachte wieder. Es klang beinahe wie das Lachen des Watschenmannes im Prater.
„Warum trinken Sie so etwas?“ fragte Hugohugo, nachdem er sich von dem Schluck erholt hatte.
„Um zu vergessen!“ rief der Mann und schlug Hugohugo auf das Schulterblatt, dass dieses beinahe zersprang.
„Um was zu vergessen?“ fragte Hugohugo unbeirrt weiter.
„Nun, dass ich lebe und mich der Tod eines Tages ja doch holt“, sagte der Mann. „Und siehe da, auf einmal bist du wirklich da, mein lieber Tod. Schneller zwar, als ich dich erwartet habe, aber immerhin. Jetzt gehöre ich dir, ganz und gar. Nur diesen einen Schluck will ich noch trinken, dann kannst du mich mitnehmen.“
Hugohugo verstand ihn nicht gleich. „Ich bin nicht der Tod“, sagte er, „Ich bin ein Skelett auf Reisen, das genauso lebendig ist und lebt wie Sie.“
„Willst du dich in meiner letzten Stunde auch noch lustig über mich machen?!“ schrie der Mann mit der Flasche und trank den letzten Schluck. „So bist du also, du elender Kerl“, lallte er. „Du bist es gar nicht wert, dass man mit dir geht! Gerade jetzt war das Leben so schön, und gerade jetzt kommst du daher. Was für ein dummer Mensch war ich nur, dass ich auf den Tod gewartet habe, statt drauflos zu leben!“
Der Mann wurde plötzlich fuchsteufelswild und stieß Hugohugo von sich. „Denke ja nicht“, schrie er, „Dass ich so einfach zu haben bin! Komm schon, du verdammter Tod, wir kämpfen gegeneinander, und dann werden wir sehen, wer stärker ist: Du oder das Leben!“
Nun verstand Hugohugo die Welt überhaupt nicht mehr. Der Mensch, der ihn gerade noch „mein Liebster“ genannt hatte, hielt ihn für seinen Tod und machte sich drauf und dran, ihm jeden seiner Knochen einzeln zu brechen. Hugohugo blieb wieder einmal nichts anders übrig, als die Flucht zu ergreifen. Der Mann hob die Flasche und schleuderte sie ihm nach. Hugohugo lief wie der Blitz, während ihm die Flasche nachgeflogen kam. Doch bevor sie ihn am Kopf treffen konnte, hörte er von oben ein lautes „Hui“, und dann packte ihn eine Hand unter der Achsel und zog ihn mächtig in die Luft.
„Göttlich, göttlich!“ schrie die Hexe, die ihn in letzter Sekunde vor der Flasche gerettet hatte. Sie hielt ihn sicher fest, während sie auf ihrem Besen durch die Nacht flogen.

IX.

„Na, wie war’s?“ fragte die Schlange und wackelte mit dem Kopf.
Hugohugo saß schweigend in einer Ecke.
„Gibt’s in der Welt draußen auch Spinnen, die so schön sind wie ich?“
„Bist du nun klüger?“ wollte die Eule auf dem Sargdeckel wissen.
„Erzähl uns von den Menschen!“ bat ihn das geköpfte Haupt des Menschenfreundes. „Sie sind anders, nicht wahr? Ganz anders!“
„Einbildung, nichts als Einbildung!“ raunte der Vampir aus seinem Sarg heraus.
„Keine Einbildung!“ zirpste die Jungfer. „Gestern hat mich schon wieder eine Hand aus einem Wägelchen angefasst.“ Der Wolf gähnte wie immer dazu.
Hugohugo überlegte lange und sagte dann nichts. Er dachte an den Watschenmann, an den Beamten, an den Straßenkehrer, an die Studentin, an den Zirkus und an den Mann mit der Flasche. Vielleicht, sagte er sich, ist die Welt draußen eine einzige große Geisterbahn für jene Geister, die irgendwann einmal aus der kleinen Welt der Geisterbahn im Prater zu Wien ausbrechen. Er spürte, wie ihn das in der Welt Erlebte noch einmal mit einem angenehmen Schaudern erfüllte. Und dann, nach sehr langem Nachdenken, sagte er zu seinen Mitgeistern: „Es hat mir – trotz allem – Spaß gemacht.“
Mehr war allerdings auch von ihm nicht zu erfahren.