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10 Mitteilungen aus der Tiefe

Text von Peter Wagner

Vertonung der Texte „Im tiefsten Grunde des Brunnens“, „Eines Morgens“
und “Seht ihr die Kinder“ von Franz Zebinger;
Uraufführung am 26. November 2004 im Schloss Esterházy

1.

Im tiefsten Grunde des Brunnens lebte der uralte Mann.
Wer sich über den Rand des Brunnens beugte
und zu ihm hinunter schrie,
warum es ihn dahin verschlagen hätte,
vernahm eine schrille Stimme,
die sich hunderte Male am gemauerten Schacht des Brunnens überschlug:
„Ich habe als junger Mann ein Mädchen geliebt.
Als es schwanger wurde, bin ich nach Amerika.
Daraufhin hat sich das Mädchen in diesen Brunnen gestürzt.
Jahrzehnte später kehrte ich zurück
Und stieg in den Brunnen.
Seitdem sitze ich hier
Und suche nach ihrem Gesicht.
Ich finde es nicht!“
Ich finde es nicht -
Ich finde es nicht -
Hörte der über den Brunnenrand Gebeugte noch tausend Mal,
Und er hörte es auch noch,
als er längst schon im Schlafe lag:
Dort unten im betauten Raum des Nichts
Saß der Alte
Und sinnierte über ein spät begonnenes Lebenswerk.

2.

Seht ihr die Kinder,
sie spielen den Tod mit dem Joystick ...
Als Herbert nach Hause ging vom Wettkampf der Freunde,
kam ihm auf nasser Straße ein Mann entgegen.
Der blutete aus einer klaffenden Wunde am Hals.
Herbert erschrak,
noch nie hatte er strömendes Blut gesehen.
Und er sah im Gesicht des Fremden
Das eigene, alt geworden.
Der Fremde blieb stehen.
„Ich bin´s, Herbert.
Erkennst Du mich denn nicht?“
„Nein“, flüsterte Herbert, da ihm die Stimme brach
und das Herz bis zum Halse schlug.
„Ich bin einer von denen von heut Nachmittag.
Es ist deiner Aufmerksamkeit entgangen,
dass der Treffer zwar zählte,
aber du hast mich nur am Halse getroffen,
und noch bin ich nicht tot.
Hilf mir, mein Sohn, hilf mir!“
Herbert war gewohnt,
das Erklärbare vom Unerklärbaren zu treffen
Und also ließ er den Fremden stehen,
wissend um den Trug seiner Wahrnehmung:
Unmöglich konnte dieser Mann existieren,
existierte er doch tatsächlich nur im Computerspiel.
Und dennoch:
Als er da ging,
der elterlichen Wohnung entgegen,
in der ein Vater schon lange fehlte,
da hörte er den eigenen Schritt
von den Mauern der Straßen hallen.
Und er wusste nicht, wessen Schritte dies waren.
Da fasste er den Mut
Und hob die Finger an den eigenen Hals.
Plötzlich wusste er auch um sein eigenes Alter ...

3.

Aus dem hiesigen Krankenhaus gleich um die Ecke
Wurde heut Nacht ein Säugling gestohlen.
Schon wenige Stunden später
Fand man bei einer Frau das Kind.
Die wohnte gleich um die andere Ecke.
So geschah es, dass ein und das selbe Kind
Innerhalb weniger Stunden gleich zwei Mal
Einer Frau weggenommen wurde.
In der Stadt indes begann eine Diskussion,
welche Strafe beide Frauen verdient hätten.
Es war eine Stadt, die nicht existierte
Und sich deshalb Diskussionen leistete,
die ohne Einfluss auf die Welt blieben.
Ihre Bewohner wähnten sich glücklich und unbehelligt
Vom Geschrei der anderen Welt.
Und die andere Welt
Wusste nichts von einem Versäumnis ...

4.

Eines Morgens öffnete ein Mann
aus der Gartenstraße das Fenster
und sah auf der anderen Straßenseite
eine ihm unbekannte Frau gehen.
„Sie ist eine Hexe,“
murmelte der Mann vor sich hin.
Innerhalb weniger Sekunden öffnete sich
in der Nachbarschaft ein Fenster nach dem anderen.
Überall beugten sich die Menschen heraus
Und murmelten in einstimmiger Gleichgültigkeit:
„Sie ist eine Hexe“.
Es geschah, dass auch die Gendarmerie Wind davon bekam
Und der Frau folgte.
Man nahm sie auf offener Straße fest.
Auf dem Hauptplatz wurde
innerhalb weniger Stunden ein Galgen errichtet.
Tausende Menschen kamen,
um das Schauspiel zu sehen.
Dder Frau, die sie eine Hexe nannten, wurde gestattet,
vor der Hinrichtung noch genau zehn Sätze
an die Schaulustigen zu richten.
Sie sprach mit gefasster Stimme.
Und da die Stimme die Menschen erfasste wie ein Orkan,
behielten man nur sie im Gedächtnis,
nicht jedoch das, was sie mitteilte.
Nachdem man die Frau hingerichtet hatte,
gingen die Menschen vom Platz mit dem Wissen,
eine bedeutende Stimme vernommen zu haben.
Das wollten sie bis an ihr Lebensende nicht mehr vergessen.
Und manche hielten sich dran ...

5.

Man erzählt, ein Fischer hätte
Im angrenzenden Bach
Einen Schatz gefunden.
Er hätte ihn aus dem Bach gezogen,
Durch den Wald geschliffen
Und ihn unter der Wurzel einer Eiche versteckt.
Der Fischer hätte sich gefreut wie ein Kind
Und sei nach Hause gegangen,
tanzend, wie nun behauptet wird.
In der Nacht darauf sei er erblindet.
Alle Versuche, die Eiche wieder zu finden,
seien gescheitert.
Und man sprach alsbald auch schon davon,
dass die gesamte Geschichte erfunden sei
und das nicht mal gut:
Irgendwie hätte sich der Fischer
Nach seinem Erblinden gesehnt
Und es auf diese Weise herbeigeredet.
Dennoch sieht man seit damals
Die Menschen heimlich in den Wald spazieren -
Und aufatmen, wenn sie ihn sehenden Auges
Wieder verlassen ...

6.

Da hatte ein Bus mit sechzig Schülern die Stadt verlassen,
um um den Russischen Zirkus zu sehen.
Doch der Bus kam niemals in der Hauptstadt an.
Der Bus kam nirgendwo an,
er war ganz einfach verschwunden.
Jahre später wurde ein Lehrer vor Gericht gestellt.
Die Anklage behauptete,
er habe eine unglückliche Liebesbeziehung
zu einer der Schülerinnen im Bus gehabt.
Er leugnete die Beziehung nicht,
auch nicht das Unglück, das sie ihm brachte.
Ob er den Bus verwunschen hätte,
fragte der Staatsanwalt den Unglücklichen.
Ja, sagte der Lehrer,
er hätte den Bus verwunschen.
Warum den ganzen Bus und nicht alleine das Mädchen,
fragte der Staatsanwalt weiter.
Das wisse er nicht, antwortete der Lehrer wahrheitsgemäß.
Der Richter aber sprach den Angeklagten frei.
Er fürchtete die Konsequenz,
über einmal Verwunschenes zu urteilen ...

7.

Eines Tages schickte Gott alle Juden und Zigeuner,
Homosexuellen und politischen Häftlinge,
die in den KZ jenes bewussten Jahrhunderts ermordet wurden,
als Monde ins Weltall
und ließ sie die Erde umkreisen.
Der Himmel leuchtete angesichts der zahllosen Monde
heller als die Sonne, Tag und Nacht.
Die Menschen hatten mit einem Schlag
die Nacht verloren und wurden reizbar und krank.
Sie unternahmen ungezählte Versuche,
sich die Nacht zurückzuerobern.
Als dann einer die Idee hatte,
das Wort „Licht“ aus dem Vokabular
der Menschheit zu streichen,
folgten sie seinem Rat.
Seitdem genießt das Licht das Privileg,
als unaussprechbare Wahrheit zu gelten
und Gott gleichgestellt zu sein.
Gott freute sich,
hatte er doch wieder einen Sieg errungen.
Auch wenn sein Name eine neue Bedeutung erhielt ...

8.

Im neuen Freizeitzentrum brannte
gleich nach der Eröffnung der Bodenbelag ab.
Man erneuerte ihn.
Anderntags war der Belag erneut abgebrannt.
Das ging einige Male so,
obwohl man seit dem zweiten Brand
den Bau strengstens bewachte.
Da befand der Bürgermeister,
dass es sich nicht um Sabotage,
sondern um einen bösen Zauber handelte,
der den Boden stets aufs Neue heimsuchte.
Der Gemeinderat beriet und kam zu einem Beschluss,
der in der Stadtzeitung veröffentlich werden sollte.
Als die Druckmaschinen das Blatt zu drucken begannen,
brannte die Druckerei ab.
Daraufhin beschloss der Gemeinderat,
dass es das Freizeitzentrum nicht gab und
nie gegeben hatte.
Das war ein weiser Beschluss,
denn seitdem ist der Bodenbelag nicht mehr abgebrannt,
und die Menschen frequentieren ein Gebäude,
das es nicht gibt.
Dort finden sie endlich die wohlverdiente Erholung
In immerwährender Freizeit.
Daneben indes verkümmert der Friedhof.

9.

Am 1. Mai des letzten Jahres wurden einer Frau,
die alle Hunde in ihrer Umgebung zu beißen pflegte,
- manche der Hunde waren ihren Wunden bereits erlegen -,
sämtliche Zähne gezogen.
Die Frau klagte auf Wiedergutmachung,
zumindest aber verlangte sie,
dass man ihr ein künstliches Gebiss bezahle.
Sie wurde in eine Anstalt eingewiesen und streng bewacht.
Die Hunde wurden jedoch weiterhin
von Menschenzähnen gebissen
und erlagen zum Teil ihren schweren Verletzungen.
Was war geschehen?
Nichts.
An den Hunden erkannten die Menschen
Schließlich ihr eigenes schlechtes Gewissen.
Und obwohl jeder den andern verdächtigte,
schämte sich jeder über das unsichtbare Zeichen
über dem eigenen Kopf.
Es war eine Menschheit,
die alsbald das Lachen verlernte.

10.

Eines Tages nahm ein angesehener Bürger
einer angesehenen Bürgerin das Herz weg
und einverleibte es sich selbst.
Wie geht es der angesehenen Bürgerin seitdem?
An allen Tischen wurde diese Frage diskutiert.
Der angesehene Bürger ist übrigens mittlerweile
trotz seiner zwei Herzen verstorben.
Man sagt,
der Teufel hätte ihm ein drittes eingepflanzt,
was seinen Brustkorb endgültig sprengte.
Die angesehene Bürgerin ohne Herz
geht indes weiterhin Tag für Tag durch die Stadt spazieren.
Ihr Ansehen ist größer denn je.
Man verehrt in ihr
Die Schutzheilige der Lüge.
Und wähnt die Welt durch sie ein Stückchen befreiter.