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Gehen unter schwebendem Geleise

 


Autobiografische Erinnerungskaskaden eine Bahnstrecke entlang

Film von Peter Wagner
Österreich 2021, 90 min

Musik: Rainer Paul und Peter Wagner
Kamera: Philipp Krebs und PeterW.
Ton: Max Leimstättner
Assistenz: Dominik Hofstätter
SprecherInnen: Gregor Seberg, Gerhard Lehner, Nadine Zeintl, Oliver Vollmann, Martin Weinek
Eine Produktion von Eros Kadaver Film, Das Märchen der Musik op. 57, 90 min, 2021

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Film by Peter Wagner
Music, arrangements und Instruments: Rainer Paul und Peter Wagner
Kamera: Philipp Krebs und PeterW.
Audio: Max Leimstättner
Assistenz: Dominik Hofstätter
Speakers: Gregor Seberg, Gerhard Lehner, Nadine Zeintl, Oliver Vollmann, Martin Weinek
Eine Produktion von Eros Kadaver Film, Das Märchen der Musik op. 57, 90 min, 2021

 

 

Gehen unter schwebendem Geleise

Eine spannende Sache. Man fühlt sich an Filme wie „Paris, Texas“ erinnert, wenn Peter Wagner - wie weiland Harry Dean Stanton - mit Baseballkappe auf dem Kopf und begleitet von Ry-Cooder-haften Gitarrensounds allein eine aufgelassene Bahnstrecke entlanggeht. Allerdings sind wir im Burgenland, nicht in Amerika, und die Ortschaften heißen auch nicht Paris, sondern Oberwart, Großpetersdorf, Oberschützen und Rechnitz.
„Gehen unter schwebendem Geleise“ hat der Theatermacher und Musiker Wagner seine „autobiografischen Erinnerungskaskaden“ genannt. Die idyllisch anmutende, beschauliche Strecke, die er abschreitet, ist in Wahrheit ein einziges Schlachtfeld: Hier wurden im 20. Jahrhundert so viele Verbrechen an österreichischen Juden und Roma begangen, dass es einem graut. Sein künstlerisches Schaffen hat er dem Kampf gegen das Vergessen gewidmet, der Film dokumentiert beides: auch die Vergeblichkeit dieses Engagements, etwa wenn es darum geht, das „Anschlussdenkmal“ von 1938 in Oberschützen als Mahnmal neu zu definieren.
Der Falter, 13/22

Autobiografische Erinnerungskaskaden eine Bahnstrecke entlang

Als Autor und Regisseur Peter Wagner am 27. September 2020 aufbrach, um die einstige Bahnstrecke zwischen Oberwart und Oberschützen zu Fuß zurückzulegen, ahnte er nicht, wie tief ihn dieser Gang in die eigene Biographie hineinziehen sollte. Im Grunde wollte er nichts weiter, als sich der Unabdingbarkeit der Natur und ihrer Kontingenz hinzugeben: Die Gleise dieses historischen Relikts waren längst überwuchert von Gebüsch, Bäumen und Gräsern aller Art – und ließen ein Gefühl für die Vergänglichkeit selbst dessen zu, was einst mit so viel Ehrgeiz begonnen und vermeintlich für die Ewigkeit gedacht war. Begleiten sollte ihn auf diesem Gang nichts als eine Kamera in den Lüften und eine zur ebenen Erde.

Doch je weiter er sich durch das Dickicht kämpfte, desto stärker warfen sich Erinnerungen auf, die ihn direkt in seine Kindheit und Jugend im Südburgenland hievten. Und nicht nur das: Bald war auch klar, dass es nicht alleine mit dem Gang in die eine Richtung nach Oberschützen getan sein konnte, es musste auch der in die andere Richtung folgen, nämlich jener nach Rechnitz. So hatte sein Film plötzlich zwei Destinationen, und das nicht nur in geografischer Hinsicht, sondern auch in inhaltlicher und ästhetischer.

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Ausgangspunkt sowohl in die nördliche Richtung als auch in die südliche ist Oberwart.

Das Bildmaterial alter VHS-Cassetten, teilweise von kaum noch brauchbarer optischer und akustischer Qualität, erkämpfte sich plötzlich wieder neue Brisanz. Da ist beispielsweise die Aufzeichnung einer unbekannten Filmerin, die im Jahr 1980 eine Aktion der Gruppe Oawaschlschluifer festhielt, als man auf dem Rasen vor dem Kriegerdenkmal ein sog. „Zigeunerdenkmal“ errichtete. Zu sehen sind neben dem jungen Peter Wagner mit einigen Aktivisten und Schaulustigen auch KZ-Überlebende aus der Roma-Siedlung in Oberwart. Die Denkmalattrappe sollte an das KZ-Schicksal der Roma erinnern und wurde bereits in der ersten Nacht von Unbekannt mit weißer Lackfarbe übergossen.

Von da an nimmt Wagner die*den Zuschauer*in quasi per pedes mit auf eine Zeitreise, die über wenige Dutzend Kilometer einer aufgelassenen Bahnstrecke hinweg eine ganz andere Geschichte des jüngsten Bundeslandes erzählt. Namen wie Oberschützen mit dem nach wie vor vorhandenen Anschlussdenkmal, Oberwart mit dem Attentat von 1995 und Rechnitz mit dem Massenmord an ungarischen Juden 1945 stehen nicht nur symptomatisch für das so lange Verdrängte in der neueren Geschichte dieses Grenzlandes, sondern auch für einen möglichen Paradigmenwechsel nachfolgender Generationen, auch wenn dieser noch lange nicht ausgemacht ist.

Mit all dem hat sich Peter Wagner in seiner schriftstellerischen Arbeit und als Regisseur über mittlerweile fast fünf Jahrzehnte hinweg auseinandergesetzt. Der Film fasst einiges davon zusammen, entwickelt aber darüber hinaus auch einen eigenwilligen filmischen Erzählungsansatz zur Schilderung eines Landes, das jenseits seiner sonnigen Werbebilder und des soeben begangenen hochrunden Jubiläums auch etliche problematische Neigungen aufzubieten hat.

Als Erzähler aus dem Off gestattet sich Gregor Seberg ein Wiedersehen mit dem Südburgenland: Er hatte bereits 1997 in der OHO- und Theater m.b.H.-Produktion „Oberwart. Mon amour“ von Peter Wagner als Hauptdarsteller mitgewirkt.