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Abseits mittendrin

Von Peter Wagner
Der Artikel entstand anlässlich der Österreichischen Nationalratswahl und wurde in der Tageszeitung „Der Standard“ veröffentlicht.

Vielleicht ja doch ein Fall für den Tourismus?

Man erzählt, sie selbst habe erzählt, wenn sie den Wochenmarkt besuche, dann brauche sie einen ganzen Tag dazu. Da treffe sie alle möglichen Leute, unterhalte sich mit diesem und jenem nicht nur aus Oberwart sondern auch aus den umliegenden Dörfern; freue sich über ein Gesicht, dass sie noch gut aus jener Gemeinde kenne, in der sie als Handarbeitslehrerin tätig war, nämlich Bildein; hier laufe ihr jemand aus Unterwart über den Weg, dort jemand aus Spitzzicken. Und zuletzt gehe sie noch hinaus in die Siedlung und unterhalte sich mit den Zigeunern, pardon: Roma.

Mit den Bildeiner Bekannten sprach sie Deutsch, mit den Unterwarter Ungarisch, mit den Spitzzickener Kroatisch, mit denen aus der Roma-Siedlung Roman. Man erzählt, in ihren letzten Lebensjahren im Altersheim hätte sie, ganz in den Alzheimer modelliert, ständig den Drang gehabt zu gehen. Davonzugehen. Hinaus auf die Straße. Zu den Bekannten, die es praktisch überall gab im weiteren Umkreis von drei Kilometern. Da hätte man sie ans Bett angebunden.

In welcher Sprache träumt der Mensch? Zumal jener, der über den Rand des Südburgenlandes niemals hinaus gekommen ist und für den der Wochenmarkt in Oberwart den Umfang der Welt bezeichnet?

Am Ende gar in vier verschiedenen?

Wenige Jahre und viele Vergangenheiten nach dem Tod der Handarbeitslehrerin, in einer Zeit, als eine Mischmaschine namens Zwanzigstes Jahrhundert gegen ihr Ende hin wie zum Beweis ihrer Hohen Berufung noch einmal so richtig in Schwung kam und auch in Oberwart ihren dreckigen Sud hinterließ, draußen am Anger, wo ein feiger Berserker seine Sprengfalle deponiert hatte und vier in den Kot hinein zerfetzte Roma hinterließ – zu ungefähr dieser Zeit landete auf dem Hauptplatz von Oberwart ein Reisebus mit nicht zu verachtender Ingredienz. Einige Dutzend japanische Tourismusmanager hatten sich in einem Luxushotel im nahe gelegenen Bad Tatzmannsdorf eingemietet und starteten von dort aus die tägliche Erkundungstour ihrer Begierlichkeiten auf das südliche Burgenland. In Oberwart stiegen sie nicht einmal aus. Es musste nur einer der Herren aufs Klo. Und für die Toilette im Oberwarter Rathaus musste zuerst einmal der Schlüssel gesucht und gefunden werden.

Wir hatten immer schon vermutet, dass das in den Siebzigerjahren unübersehbar in die Mitte des Ortes erbaute Hochhaus irgendwann irgendjemandem zum ästhetischen Ärgernis geraten würde. Lässt es doch die ursprünglichen Wahrzeichen der Gemeinde, die drei Kirchtürme wie Spielzeugminiaturen unter sich verschwinden. Aber wer konnte damals schon mit japanischen Tourismusmanagern rechnen, noch dazu wo man sich in seiner Eigenschaft als notorisches Grenzland am Eisernen Vorhang ohnehin und unauflöslich ins geographische und geschichtliche Abseits versetzt sah? Die aufstrebenden Siebzigerjahre waren nun einmal phallischer durchdrungen als der heutige architektonische Schummelkurs, besonders im Burgenland, wo nicht weniger als drei (!) Bezirksvororte um das Gebäude mit der höchsten Etagenanzahl wetteiferten: Oberwart landete mit vierzehn an zweiter Stelle, Mattersburg mit dreizehn an letzter. Den Sieg trug wie immer die Landeshauptstadt Eisenstadt mit fünfzehn Stockwerken davon.

Aber hat denn nun die „Metropole des Südburgenlandes“, wie sich Oberwart selbst gerne bezeichnet, den organisiert marodierenden Wohlstandsbürgern aus Japan oder anderswo tatsächlich nicht mehr zu bieten als einen an einen Flakturm erinnernden Betonkasten? Lange Zeit jedenfalls besaß man – am Fuße desselben und wie dieser Zeuge des Aufbruchs in die neue Zeit – die einzige dreifarbige Ampel des gesamten Südburgenlandes. Ein Vorsprung, den Nachzügler wie Pinkafeld und Güssing mittlerweile egalisierten. Darüber hinaus aber verfügt Oberwart nebst einer Messe mit abschließendem Feuerwerk, Anziehungspunkt für jährlich hunderttausend Besucher und mehr, sehr wohl über weitere Besonderheiten, ja Reichtümer, die jenen genaueren Blick verdienten, der den meisten Oberwartern (noch) abgeht.

Da wären beispielsweise die sechs Friedhöfe in der nicht einmal siebentausend Seelen zählenden Gemeinde: der römisch-katholische, der evangelische, der reformierte, der jüdische und der Russenfriedhof, in dem die in den Aprilkämpfen des Jahres 1945 gefallenen russischen Soldaten begraben sind. Der kleine Rote Sterne an der sonst rostigen Eingangstüre wurde bis zum Fall des Eisernen Vorhangs sogar noch regelmäßig frisch und besonders knallig lackiert. Und schließlich führt auch noch der „Armenfriedhof“ ein bescheidenes aber intaktes Dasein. In seiner Erde ruhen all jene Individuen, die das Pech hatten, keiner der oben bezeichneten Konfessionen anzugehören.

Neben den am Wochenmarkt vertretenen Sprachen bezeugt alleine schon die Anzahl der Friedhöfe die kulturelle Vielfalt einer Region, die noch bis vor kurzem im Bestreben, seinen Minderwertigkeitskomplex abzuschütteln und der schreienden Modernität der Welt nachzuhetzen, alles auszumerzen versuchte, was mit eben dieser Vielfalt zu tun hatte. Mittlerweile scheint sich ein zaghaftes Umdenken zu ereignen: immerhin hat sich in Oberwart ein zweisprachiges Gymnasium mit den u.a. angebotenen Sprachen Ungarisch, Kroatisch und Russisch etabliert, das auf seine Weise einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur EU-Osterweiterung leistet, die eigentlich eine Westerweiterung des Ostens ist.

Und so findet man sich in diesem so lange gepflegten Abseits plötzlich mitten drin in der Geschichte. Vorderhand noch um einiges weniger turbulent als 1921, im Gründungsjahr des Burgenlandes. Da hatten einige wackere Magyaren in Oberwart einen eigenen Staat ausgerufen, um den drohenden Anschluss Westungarns an Österreich zu verhindern. Man nannte ihn „Lajta-Banat“. Er hatte einen Präsidenten, einen Außen- und Innenminister, einen Wirtschafts- und Unterrichtsminister, einen Justiz- und Heeresminister. Und sogar ein eigenes Zollwesen. Immerhin betrug die Lebensdauer dieses Operettenstaates ganze vier Wochen.

Wenn das die japanischen Tourismusbonzen gewust hätten!