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Die verführte Intelligenz

von Peter Wagner
Rede, gehalten anlässlich des 25jährigen Bestehens der Volkshochschulen des Burgenlandes
24. Oktober 1994, Eisenstadt
Die Rede iar in einer Publikation der Österreichischen Volkshochschulen erschienen.

Es hatte gerade zu einem Eklat gereicht. Zu ein paar Zeilen in einigen wenigen Printmedien. Allzu breit schien man die Sache allerdings nicht treten zu wollen - sie argumentativ auszutragen, beinhaltete doch zuviel Sprengstoff. Charlotte Höhn, die Leiterin des deutschen Instituts für Bevölkerungsforschung, hatte die Kairoer Bevölkerungskonferenz Anfang September dieses Jahres vorzeitig verlassen müssen. Es sei legitim zu sagen, hatte sie gesagt, daß "die durchschnittliche Intelligenz der Afrikaner niedriger ist als die anderer."

Mittlerweile ist sie wegen rassistischer Äußerungen ihres Amtes enthoben. Als geladener Gast auf dem afrikanischen Kontinent dem Gastgeber zu sagen, er sei dumm, erzählt nicht nur von Pietät- und Geschmacklosigkeit, von Ignoranz und mangelnder eigener Intelligenz, sondern weit mehr noch von jener Arroganz, die den Herrenmenschen seit jeher eigen ist: durch die Abwertung eines ganzen Volkes, in diesem Falle sogar eines ganzen Kontinents, sich selbst mit dem Status des Erhobenen, also Erhabenen, zu schmücken.

Vom Erhabenen zum Erwählten, zum selbsterwählten Weltenführer ist es dann - zumindest geistig, aber wie wir in diesem Jahrhundert gesehen haben auch faktisch - kein großer Schritt mehr. Mit dem moralischen Recht auf Führerschaft geht das durch sie legitimierte Recht auf Krieg und Völkermord Hand in Hand: Man muß nur in ausreichendem Maße überzeugt sein von der eigenen Erwähltheit, man muß nur glauben an die eigene Mission des Weltenretters und Weltenherrschers. Der Glaube sprengt letztlich Grenzen. Insoferne waren alle Kriege zu allen Zeiten rassistisch. Rassistisch und Glaubenskriege.

Gewiß: Frau Höhn hatte wahrscheinlich gar nicht irgendein ethnisch-rassisches Vorurteil in der Eigenart der Nazipropaganda im Sinn, das hatte sie auch gar nicht nötig. Wer die Wissenschaft bemüht, die Welt der empirischen Zahlen und Daten, der Meßbarkeiten und Zuordnungen, der braucht sich um die scheinbare Objektivität seines Argumentes nicht zu sorgen.

Nehmen wir also einmal an, je hundert oder tausend Europäer, Amerikaner, Südamerikaner, Asiaten und Afrikaner werden Formulare unterbreitet oder Computer vor die Nase gesetzt. Es gilt, gewisse Aufgaben zu lösen. Dazu läßt man die Uhr ticken. Das Ganze nennt sich: "Wir Menschen der Welt messen unsere Intelligenz. Damit wir wissen, wer von uns die Besten sind." Am Ende werden die Ergebnisse ausgewertet, die Punkte zusammengezählt, selbstverständlich analysiert und kommentiert, Rückschlüsse gezogen und allgemeine Erkenntnisse formuliert. So weit, so infantil.

Selbstverständlich aber werden die Wissenschafter - denn die sind ja nicht dumm - die jeweiligen ethnischen, kulturellen, kulturhistorischen, soziologischen, psychologischen, gesellschafts- und realpolitischen, altersspezifischen, religiösen Faktoren und Eigenheiten der Europäer, Amerikaner, Südamerikaner, Asiaten und Afrikaner in der didaktischen Gestaltung ihrer Testformulare und Computerprogramme berücksichtigt  haben. Schließlich dient die Wissenschaft dem Gral der Objektivität, nicht dem Mistkübel der Spekulation.

Aber auch die noch so differenzierende Auswahl der Testkriterien ist schon höchst problematisch, um nicht gleich zu sagen untauglich. Wie wird sich Intelligenz jemals messen lassen, wenn sie nicht die Annäherung an den tieferen, intuitiven Kern der menschlichen Seele, der Seele der Völker, an das schöne Eigene, das unverwechselbare Selbst beinhaltet? Das schöne Eigene und das unverwechselbare Selbst aber entziehen sich der Meßbarkeit. Die Empirie müßte schweigen, wo sie nichts zu suchen hat. 

Genau das aber wollen und werden wir nicht zulassen. Demut vor der in sich geborgenen Aura der menschlichen Würde ist die Sache der Wissenschaft nicht. Und so wird uns die Magie der Zahlen und Tabellen und Auswertungen am Ende die Botschaft läuten: "Die durchschnittliche Intelligenz der Afrikaner ist niedriger als die anderer."

Was werden sie sich noch alles gefallen lassen müssen, die Menschen dieses aufregenden und schönen, von der aggressivsten aller Rassen, der weißen Rasse am meisten verschacherten und vergewaltigten, ausgebeuteten und ausgehungerten und ausgebluteten Kontinents, der als die Wiege der Menschheit gilt?

Es wäre also nur noch zu klären, wer die anderen sind. Die Intelligenteren dieses Planeten. Die, die es immer schon waren. Wir also. Und vor allem wir in unserer schönen, neuen, hochzivilisierten und arroganten Welt der unbegrenzten Machbarkeiten.

Allgemein gelten bereits Schimpansen, die körperfremde Gegenstände, z.B. Stöcke und Kisten dazu verwenden, um außerhalb der eigentlichen Reichweite liegendes Futter zu erreichen, als intelligent.

Stanley Kubrik läßt in seinem Film "2001: Odyssee im Weltraum" zwei verfeindete Halbaffenstämme im Kampf um einen Wasserplatz aufeinander treffen. Die Verteidiger werden mit wilden Drohgebärden verjagt. Einer der Leithammeln der vertriebenen Gruppe findet am Skelett eines verendeten Stieres einen ellenlangen, kräftigen Knochen und schlägt auf die kleineren Knochen. Je stärker er schlägt, umso eher zerbrechen diese. Bis der Hammel den Knochen mit solch brachialer Wucht auf den Schädelknochen des verendeten Tieres niedersausen läßt, daß dieser in hunderte Teile zersplittert.

Bei der Zurückeroberung des Wasserplatzes sind die Leittiere der diesmal Angreifenden alle mit solch kräftigen Knochen ausgestattet. Die Verteiger versuchen wie üblich, die Angreifer mit Drohgebärden zurückzudrängen. Der Leithammel der Angreifer reibt plötzlich auf und schlägt seinen Knochen auf den Kopf des verteidigenden Leithammels. Weitere unkontrollierte Hiebe folgen, der getroffene Leithammel liegt regungslos im Sand.

Zweifellos war der Benützbarkeit des Knochens als Werkzeug, als probates Mittel zum Zweck eine intellektuelle Erkenntnis vorangegangen: Haue ich fest genug hin, zerbricht der Schädel des anderen. Das Produkt einer ersten intelligenten Regung wäre somit ein Tötungsakt gewesen, das erste Werkzeug ein Tötungsinstrument. Die Botschaft ist zudem eindeutig, als Kubrik dieses Einleitungskapitel mit "Aufbruch der Menschheit" übertitelt.

Nun handelt es sich hier natürlich nur um eine der vielen möglichen Hypothesen über den tatsächlichen Aufbruch der Menschheit vor vielen Tausenden Jahren, und man könnte die Sichtweise des Filmemachers Kubrik ohne weiteres in die Kategorien "pessimistisch", "fatalistisch", "vereinfachend", ja "demagogisch, zynisch und verächtlich" einordnen.

Fände nicht Kubriks fatalistische Vision eine handfeste Bestätigung auch im aufgeklärten Zwanzigsten Jahrhundert: die größten Forschungszentren der Welt werden nicht von zivilen Einrichtungen unterhalten, sondern von militärischen. Konkret: von der Armee der Vereinigten Staaten von Amerika.

Das Beste, was die USA an Intelligenz zu bieten hat, rekrutiert sich aus den diversen universitären Zuchthäusern der Wissensvermittlung und ist nicht damit beschäftigt, sich um eine humanitäre Gesellschaft mit einem funktionierenden Sozial- und Krankenversicherungswesen zu bemühen, sondern das Land mit einer Technologie zu versorgen, die der Führungsmacht ihren selbsterwählten Status in der Welt sichert. Die Intelligenz ist zudem hoch bezahlt, solange sie im Sinne der ihr zugedachten Aufgabe funktioniert: sie dient, noch lange bevor die Auswirkungen der Forschung auf den zivilen Sektor umschlagen, zuersteinmal der Entwicklung und Produktion von Vernichtungs- und Massenvernichtungsmitteln.

Die in New York veranstaltete größte Konfettiparade aller Zeiten nach dem 1. High-Tech-Krieg der USA gegen den Irak galt denn auch in Wirklichkeit nicht - wie in früheren Zeiten - der kämpfenden Truppe. Die kam in der irakischen Wüste tatsächlich kaum zum Einsatz. Sie galt der neuen, alles überstrahlenden Göttin: der Technik. Geboren aus hunderttausend Köpfen, deren überdurchschnittliche Intelligenz zum Zwecke der Vernichtung funktionalisiert worden war und weiterhin funktionalisiert wird.

Intelligenz ist ein seltsames Wort. Und ein noch seltsamerer Begriff. Ganz selbstverständlich kommt uns  das Wort "intelligent" von den Lippen, so selbstverständlich wie die Wörter groß und klein, Gehstock und Auto, hassen und lieben. Ein Kind, das mit vier bis dreißig zählen oder mit sieben fließend lesen kann, nennen wir gemeinhin überdurchschnittlich intelligent. Als überaus intelligent werden wohl Menschen gelten, die mit zweiundzwanzig drei Hochschulstudien abgeschlossen haben. Und einer, der einen Bankomat-Code zu knacken und Kunden und Bank um Millionen zu erleichtern imstande ist, gilt dem Strafgesetzbuch nach zwar als Krimineller, niemand wird ihm jedoch absprechen, hochintelligent zu sein.

Beim ersten Hinsehen scheint die begriffliche Bestimmung des Wortes "Intelligenz" eindeutig und klar zu sein. Beim zweiten Hinsehen ist sie das schon weniger.

Aus den beiden Worten, die dem lateinischen intellego zugrunde liegen, nämlich inter und lego, läßt sich unschwer nachvollziehen, daß Intelligenz im eigentlichen Sinn des Wortes erstens etwas mit einem Zwischenbereich, zweitens mit einer Sammlung, einer Auslese, einer Auswahl im Sinne einer Suche zu tun hat. Intelligenz ist im ursprünglichen Sinne das, was uns befähigt, zwischen den Dingen der Welt etwas herauszusuchen, herauszufinden. Etwas zu erkennen.

Weil sie in den Raum zwischen den Dingen eindringt, berührt sie sie an zwei Seiten: an dieser und an jener. Sie lernt, die Dinge zu benennen. Schließlich erkennt sie sie nicht nur als getrennt von einander, sie weiß auch, worin diese Trennung besteht: sie kennt ihre Unterschiede. Wer aber die Unterschiede kennt, der kennt auch das Gemeinsame, das Verbindende. Intelligenz ist mithin auch die Brücke zwischen den Dingen der Welt, das Wissen um ein gemeinsames Schicksal, der tiefere Blick in die Höhen und Abgründe göttlicher Schöpfung und der menschlichen Existenz in ihr.

Sosehr darunter selbstverständlich auch die menschliche Ratio in allen ihren wuchernden Formen des Suchen und Findens, des Erkennens und Verwerfens zu verstehen ist, so sehr ist Intelligenz immer auch die tiefere, metaphysisch durchdrungene Einsicht in die Endlichkeit und Grenze des menschlichen Seins und Geistes.

In welchem Intelligenz-Test allerdings wird der einsichtige Umgang des Menschen mit der Erkenntnis seines Schicksals erhoben? Ich wage zu behaupten: in keinem. Es würde sämtliche gängigen Theorien über die Intelligenz und ihre Meßbarkeit radikal über den Haufen werfen. Und unserer hypertroph hochzivilisierten Welt wahrscheinlich ein vernichtendes Zeugnis ausstellen.

Im biblischen Schöpfungsmythos hieß der erste intelligente Mensch nicht Adam, sondern Eva. Dies wird ihr offenbar heute noch übel genommen. Denn sie war es, die die Trennung von der Geborgenheit in der Natur, in Gott, vom fortgesetzten Schlaf des Bewußtseins im unendlich reichen und schillernden Aufgebot des Unbewußten vollzog. Sie gab den Weg vor: sich die Frucht des verbotenen Baumes einzuverleiben, um in den Besitz der Erkenntnis von Gut und Böse zu gelangen.

(Den ersten Biß tat freilich Adam - zur Ehrenrettung des männlichen Geschlechts. Allerdings ganz im Sinne der Legende: Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine Frau.)

Vital im Sinne von folgerichtig und folgenschwer für das Leben wurde die Intelligenz aber erst mit dem ersten Tötungsakt durch Kain, der seinen Bruder Abel erschlug. Kain begann seine Intelligenz zu gebrauchen, denn anders als Eva, die für ihr sündhaftes Tun mit einem Fluch beladen und aus dem Paradies vertrieben wurde, mußte Kain sich vor dem fragenden Gotte rechtfertigen. Er war der erste, der die List, die Ausrede, den Widerspruch und das Argument erfand. Allerdings auch die Einsicht, denn er hat das Urteil Gottes anerkannt. "Unstet und flüchtig sollst du auf Erden sein!" warf Gott ihm seinen Fluch hinterher. Und Kain ging und war unstet und flüchtig. Und seine Kinder und Kindeskinder waren und sind es noch viel mehr.

Man wird allerdings den Eindruck nicht los, daß die Intelligenz von allem Anfang an, bereits mit dem berühmten Biß Adams in den Apfel der Erkenntnis, auch das stete Schuldgefühl der Schöpfung darstellt, sozusagen einen hysterischen Betriebsunfall der Natur. Womit zumindest ein hypothetischer Ansatz für den Verdacht vorhanden wäre, daß sie, die hysterische menschliche Intelligenz, als luziferisches, naturfremdes Phänomen in ihrer allerhöchsten Konsequenz nach Selbstaustilgung strebt.

Doch ist nicht, solange dieses Schuldgefühl der selbstbewußten Schöpfung innewohnt, auch noch eine Scham vorhanden, diese restlos zu zerstören? Ist nicht gerade die Scham in der Erkenntnis der eigenen Nacktheit eines der Folgeprodukte des Bisses in den Apfel der Erkenntnis, des Beginns der Intelligenz und also ursprünglich mit ihr verbunden?

Mörder sind Menschen ohne Scham. Sind es auch die, die ihnen die Waffen in immer größerem und komplexerem Umfang bauen, nicht nur als konventionelle Kriegswaffen, sondern als Psychowaffen, als mentale Mordwerkzeuge, als die Atombombe der Bilder, wie Paul Virilio das Fernsehen nennt? Leben wir mithin in einer völlig schamlosen Zeit?

Vielleicht sollten wir gerade in der sogenannten hochzivilisierten Welt der Machbarkeiten den Begriff der Erbsünde, die ich eher als eine in jedem Menschen schlummernde schamhafte Urschuld verstehe, neu überdenken, ohne dabei in die Klischees pragmatisch-rationaler Argumentation zu verfallen. Die Einbeziehung der Scham als natürliche Gegenkraft zum Hochmut des Intellekts, von dem Thomas Mann spricht, wäre ein Ansatz für eine neue Ethik eines gesamtheitlichen Menschen in einer auf tausend Fachbereiche zersplitterten, restlos säkularisierten Welt.

Ich werde nocheinmal auf die Scham als Wesensmerkmal der vitalen Intelligenz im Gegensatz zur funktionalen Intelligenz zurückkommen.

Wie sieht es nun tatsächlich aus mit unserer Intelligenz?

Wir haben Krankheiten wie Pest und Cholera, die Tausende Jahre als unausrottbar galten, mehr oder weniger in den Griff bekommen. Mit einigen Ausnahmen: den Tod haben wir noch nicht besiegt, und auch nicht die Melancholie. Und auch Aids noch nicht, weshalb ihr von erzreaktionären katholischen Kreisen gleich die Etikette "Strafe Gottes" angeheftet wird. Allerdings wird die Qualität der Kondome am elektronischen Prüfstand laufend besser - nur die mag wiederum die Kirche nicht.

Es ist uns gelungen, Licht in die Finsternis der Nacht zu bringen, wenngleich das Licht in unseren Herzen deshalb nicht leuchtender geworden ist. Wir sprechen miteinander über die Kontinente und werden uns demnächst dabei sogar in die Augen sehen. Wir haben Flugzeuge konstruiert, die wenigsten davon stürzen ab. Und wir haben den Mond bestiegen. Daß die Fruchtbarkeit schon lange nicht mehr von ihm abhängig ist und neuerdings auch im Labor bewerkstelligt werden kann, wird ihn nicht gerade traurig machen.

Überhaupt Fruchtbarkeit: Wissenschaft und geschäftlicher Ehrgeiz sorgen dafür, daß sie in Zukunft zur hochbezahlten Kostbarkeit wird. Dann nämlich, wenn sich die männliche Zeugungskraft durch den Einsatz künstlicher Östrogene auf ein nicht mehr Vorhandenes reduzieren wird. So reguliert sich das Problem der Überbevölkerung vielleicht ganz von selbst, ohne daß wir neue Seuchen oder Kriege erfinden müssen.

Glauben wir Sir Karl Popper, so leben wir heute in der besten aller Gesellschaften. Nur sei sie noch immer zu schlecht.

Immerhin haben wir in diesem Jahrhundert auch erkannt, daß Tötungen im Massenverfahren mit Gas effektiver sind, auch wenn dadurch ein gewisser Notstand bei den Verbrennungsöfen entstand, sie kamen bei der Masse der gelieferten Leichen nicht nach.

Wir könnten sogar innerhalb von Tagen, wenn nicht Stunden die gesamte hungernde Weltbevölkerung mit Nahrung versorgen. Aber wir tun es nicht. Es gibt letztendlich zu viele rationale, sprich: intelligente Argumente, die dagegen sprechen. Und zu viele Interessen, die es unterbinden. Moral ist noch allemal teilbar. Oder in Abwandlung des Satzes von Brecht: Erst kommt die Moral. Und dann kommt das Fressen noch lange nicht nach.

Teilbar wie die Moral ist auch unsere Intelligenz. Teilbar und spezialisierbar. Und das gar nicht einmal freiwillig, sondern notgedrungen. Denn in dem Maße, wie die Welt durch Informations- und Verkehrsnetze kleiner geworden ist, in dem Maße ist sie groß und größer und letztlich unüberschaubar, ja mönströs geworden. Kein menschliches Hirn wäre heute noch imstande, all das vollkommen unüberschaubar gewordene faktische Wissen noch zu fassen, das Forschung und Technik bisher zusammengetragen haben und täglich weiter aufhäufen. Die Welt hat nicht mehr Platz in einem Kopf.

Und heimlich spüren wir, daß auch die Wahrheit nicht mehr Platz hat in einem Kopf. Je mehr uns die Welt der Erklärungen an Möglichkeiten zur Einsicht bietet, desto ratloser wird unser kleinmütiger Sinn. In dem Vielen an Welt ist der einzelne kleine Mensch lange schon verloren. Er sehnt sich nach Gewißheit von außen, je weniger er sie findet in sich selbst. Der Boden ist aufbereitet für die Vereinfacher, die ihm aus dem Vielen an Welt das übersetzen, was für ihn noch oder schon wieder überschaubar ist - zu welchem Zwecke sie das tun, ist ihm dabei fast schon egal. Am überschaubarsten sind Parolen und diffuse Heilsphantasien. Und nicht nur in der Welt der Politik.

Je mehr ihm das Vertrauen in seine eigene Erkenntnisfähigkeit verloren geht, umso mehr sucht der Mensch sich an der gesicherten, in Wahrheit aber nur scheinbar gesicherten Erkenntnis durch die Wissenschaft oder durch fundamentale politische oder religiöse Offenbarungen zu orientieren. Das bedeutet nicht nur, daß er damit sein Ego endgültig an den fremden Heilsbringer delegiert. Es bedeutet auch, daß die Wissenschaft den Rang einer fundamentalen religiösen Offenbarung eingenommen hat. Und in der Tat: die zahlenmäßig wahrscheinlich größte Religionsgemeinschaft der sogenannten zivilisierten Welt bilden die Wissenschaftsgläubigen.

Wie weit sich die Intelligenz dabei von ihrer vitalen, ethischen Basis entfernt hat und weiter entfernt, mögen einige Beispiele umreißen. Wir kennen sie alle, ich wiederhole sie nur. Ich wiederhole sie, damit wir sie nicht vergessen:

In der Debatte über den Einsatz der Atomkraft in Österreich hatte einer der verbissensten Befürworter der Kernenergie ein fürwahr bestechendes Argument ins Rennen geschickt: es sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt vollkommen unerheblich, ob die Frage der Endlagerung atomarer Brennstäbe gelöst sei oder nicht. Die Fortschritte der Technik würden es irgendwann in Zukunft ermöglichen, dieses Problem zu lösen. Es wäre daher hirnrissig, das Risiko der Atomkraft nicht auf sich zu nehmen.

Einige Jahre später war die Technik den Nimbus der heilspendenden Göttin endgültig los. Das Waterloo der Technik hat heute einen Namen, den auch die Kinder schon kennen, nicht nur die mit den zu groß gewachsenen Schilddrüsen: Tschernobyl.

Wenn etwa ein Gen-Forscher im Club 2 sagt, in Zukunft hätte niemand mehr das Recht, einen behinderten Menschen in die Welt zu setzen, so kommt das einem ethischen Konkurs gleich, der endgültigen Resignation vor den Phantasien einer genetisch restlos perfekt stilisierten, ja gestylten, einer ästhetisch wie gedanklich wie moralisch normierbaren Welt. Die Methodik jedoch, die hinter solchen Phantasien steckt, ist das Produkt verführter und einseitig funktionalisierter Intelligenz.

Edward Teller, ein Großmeister der Kunst der Physik und wohl auch der der technischen Demagogie, hat uns mit einer außergewöhnlichen Erfindung beschenkt, der sog. Neutronenbombe. Ihre ganz phänomenale Wirkung besteht darin, daß sie die Menschen in Panzern oder Häusern zwar tötet, die Panzer und Häuser aber völlig unbeschädigt und nach kurzer Zeit bereits für den Eroberer wieder nutzbar hinterläßt.

Dabei kann man Edwar Teller nichteinmal eine ganz besonders heimtückisch ausgeprägte persönliche Perfidie unterstellen. Seine Erfindung stellt im Grunde nichts anderes dar als die so hochintelligente wie konsequente Interpretation der Logik moderner Kriegsführung.  

Am schlimmsten jedoch, und - wie ich meine - folgenschwersten wird der Mißbrauch und die Verführbarkeit der Intelligenz an unseren Kindern augenfällig.

"Computerabhängige Kinder", heißt es in einem Kurier-Artikel von letzter Woche, "erleben die gleiche euphorische Stimmung, wenn sie spielen und - gehen durch die Hölle, wenn ihnen der Joystick entzogen wird. Sie leiden dann genauso wie Alkoholkranke oder Raucher. ... Beobachtet wurden 147 Elfjährige, von denen 48 Prozent fast jeden Tag mit dem Computer spielten. Es stellte sich heraus, daß ein Drittel von ihnen ihre Hausaufgaben und ihre Freunde vernachlässigten, wenn sie die Chance zum Computerspielen hatten. Besonders registriert wurde die Unruhe, wenn diese Kinder nicht den Joystick in der Hand hielten und auf einen Bildschirm starren konnten."

Wir schicken sie nicht mehr in den Krieg der körperlichen Vernichtung, wir lassen sie im Krieg der rasenden Bilder brennen und innerlich verglühen.

Während sich die Erwachsenen in ihrer dröhnenden inneren Einsamkeit diversen Drogen hingeben, bis hin zum Macht- und Geschwindigkeitsrausch, flüchten die Kinder vor den Computer. Seltsam: wir warnen sie vor Alkohol, Nikotin und Drogen aller Art, mokieren uns über die früher gehandhabte Sitte, den Kindern zum Einschlafen Mohnextrakte zu verabreichen, aber wir stellen ihnen meist bedenkenlos, manchmal mit schlechtem Gewissen, aber doch, Bildschirme und Computer in die Kinderzimmer.

Wir warnen sie nicht vor dem Rausch der ganz anderen Droge Technik. Offenbar aus dem irrigen Glauben heraus, sie würde uns und unseren Kindern jene Intelligenz abverlangen, die wir zum Überleben brauchen. Dabei übersehen wir, daß der unersättliche Rausch der Technik uns und unsere Intelligenz bisweilen schon lange nicht mehr fordert, sondern nur noch benützt um ihrer selbst und unseres infantilen Spieltriebes willen; daß sie, die so verlockend schnurrende und lächelnde Göttin, schon lange über uns und unsere dargebrachte, ja geopferte Kreativität verfügt wie ein Diktator über seine Krieger.

Diktator und Krieger, der Vergleich ist nicht so unangebracht. Die Göttin ist zwar eine sanfte Verführerin, ihr Charisma zeitigt deshalb noch lange nicht das Ergebnis der Sanfmut, im Gegenteil: Wir erleben gerade in der alles überwuchernden Unterhaltungsindustrie ein beängstigendes Zusammenprallen von Technik und Gewalt und damit verbunden eine zynische Entwertung des menschlichen Lebens als das höchste, in sich schützenswerte Gut.

Vollkommen transparent wird die Reduzierung des Intelligenzbegriffes auf seine funktionale Ebene, wenn wir schließlich von "intelligenten Maschinen" sprechen.

Maschinen sind nicht intelligent, sie sind effektiv in der für sie vorgesehenen Funktion, wobei es einfache Maschinen gibt, wie das Fahrrad, und hochkomplizierte, die mittlerweile imstande sind, sogenannte virtuelle Realitäten zu erzeugen, Lügenräusche des traurigen Traums  von einer fiktiven, vielleicht besseren Ersatzwelt.

Dennoch verfügt eine Maschine über keine eigene Gewissens- oder Bewußtseinsdimension, außer der ihr vom Menschen einprogrammierten. Und sollte eine Maschine eines Tages über eine eigene, aus sich selbst geborene Transzendenz verfügen, so wäre sie keine Maschine mehr, sondern ein eigenes Wesen mit eigener ethischer Daseinsgrundlage und Verantwortung.

Ich will mir solch ein Wesen nicht ausmalen. Ich denke aber doch, daß nicht so sehr die Gefahr besteht, daß Maschinen zu eigenverantwortlichen Individuen werden, als daß eigenverantwortliche Individuen, sprich: Menschen, zu Maschinen mutieren. Nicht nur die seit der industriellen Revolution bekannten Produktionsmethoden steuerten dieser fatalen Entwicklung menschlicher Kreativität zu, sondern und vor allem auch die anscheinend freiwillige Eingliederung des modernen Menschen in das Massenangebot von Konsum, Freizeit, Unterhaltung oder schlichtweg Ablenkung.

In dem Maße, in dem Individualität von der Freizeitindustrie sozusagen propagiert und als Massenware angeboten wird, in dem Maße verfällt sie in ihrer eigenen Egalität und Ziellosigkeit. Der moderne Mensch ist ein Wesen, das weiß, daß es ein Leben gibt, ihm rasend hinterher läuft, um es endlich in seinen Besitz zu bringen, wie man Geld und Macht in seinen Besitz bringt, aber siehe: das Leben läuft ihm davon, denn tatsächlich ist das Leben der Hort der Poesie: es ist unkäuflich. Und gewaltsam einzufangen ist es schon gar nicht.

Kein anderes Jahrhundert der Menschheitsgeschichte hat die Psychose derart zum Lebensprinzip erhoben wie dieses zwanzigste Jahrhundert, das astreine Folgeprodukt der Aufklärung, die noch vor 200 Jahren mit der Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in die große bürgerliche Revolution gegangen ist.

Heute steht der aufgeklärte Mensch vor sich als dem sich selbst reflektierenden Monstrum, das so viel von sich weiß, daß es alles von sich vergessen hat und nun dem Wahn verfallen ist, sich mit psychomathematischer Denkarbeit selber konstruieren, sozusagen neu erfinden zu können.

Hier endlich ist die Bezeichnung "intelligente Maschine" tatsächlich angebracht!

Die Wissenschaft von einer Sache ersetzt das Wissen um eine Sache. Die Wissenschaft vom Menschen ersetzt das Wissen um den Menschen. Es ist, als hätten wir das Plakat unserer selbst an eine Wand gemalt und versuchten, ihm Leben mittels Formeln, Analysen und Therapien einzuhauchen, um von diesem zu erfahren, wer wir sind.

Die Wissenschaft hat uns, zugegeben, niemals ein Versprechen gegeben, wir sind es, die absurde Ansprüche an sie stellen: die grenzenlose Machbarkeit, der uralte Traum von der eigenen Unendlichkeit, die endgültige Emanzipierung von Gott.

Schmerzhaft werden wir einsehen müssen, soferne wir es nicht schon eingesehen haben, daß der zum Greifen nahe Traum nur ein Trugbild ist. Daß wir alle jener Tantalos sind, der für seinen Hochmut bezahlt: wir wollten die Göttin herausfordern und haben mit ihr gepokert; sie hat sich eine harte Strafe für uns ausgedacht, indem sie den Inhalt unserer Begehrlichkeit über unsere Köpfe hängte: sich selbst, das suggerierte, wenn nicht versprochene Leben, reich und verlockend - allerdings in einem Bildschirm gefangen. Wir stehen darunter, sehen in den Bildschirm und greifen danach. Und  vertrocknen in der Qual, das Leben niemals wieder aus ihm herausholen zu können.

Man spricht heute gerne vom Versagen, ja vom Niedergang der Ideologien. So wenig das falsch ist, so wenig ist es wahr: wir erleben weltweit den Endsieg des Kapitalismus, und selbstverständlich ist der Kapitalismus kein gottgewolltes Naturereignis, sondern eine von Menschenköpfen vorbereitete und geschaffene Ideologie, die Anspruch auf die naturgegebene Allgemeingültigkeit ihrer Doktrin erhebt und sich auf geschickte Weise der verführbaren Intelligenz bedient.

(Ich darf vor diesem Auditorium davon ausgehen, daß man versteht, daß ich durch meine prinzipielle Kritik am Kapitalismus nicht automatisch das gescheiterte Experiment des real existierenden Sozialismus verteidige oder gar propagiere. Meine Kritik beinhaltet ebensowenig die Behauptung, im Besitz einer allgemeingültigen Wahrheit zu sein.)

Wie alle Endsiege auf doktrinärer Basis mündet auch der Kapitalismus direkt in der Tyrannei, in der Tyrannei einer anderen Göttin, die sich Wirtschaft nennt. Wir erleben die Reinstallierung der Freien Wildbahn mit dem Recht und Gesetz des Stärkeren im immer brutaler und ungezügelter werdenden Dschungel des Freien Wettbewerbs, der von seinen Vor- und Anbetern euphemistisch als "Abenteuer Wirtschaft" plakatiert wird. Wie abenteuerlich das tatsächlich ist, beweisen nicht nur die nach und nach entstehenden und schon entstandenen Zwei/Drittel-Gesellschaften, die bewußt in Kauf nehmen, daß ein Drittel der Gesellschaft einem ungewissen Schicksal überlassen ist und unter Umständen zu dahinvegetierenden Untermenschen mutiert. Auch die auf Dauer noch schmerzhafter spürbaren Treibhauseffekte und Ozonlöcher über unseren ratlosen Häuptern werden dereinst - sofern sie es nicht heute schon sind! - zu traurigen Denkmälern unseres abenteuerlichen Wahns von der unbegrenzten Machbarkeit im ungezügelt freien Spiel der Kräfte.

Auf die Dauer werden uns Credo und Zwang zum steten Wirtschaftswachstum zurückführen auf den Status einer primitiven, mafios-kriminellen Gesellschaft, in der das ultimative Recht des Stärkeren zur unumschränkten Doktrin avanciert ist - damit will ich keineswegs die wenigen, gerade noch vorhandenen sog. primitiven Kulturen beleidigen. Denn deren Leben ist - solange es nicht mit unserer Kultur in Berührung gekommen ist - in der intakten Demut vor der Göttlichkeit der Natur nicht im entferntesten so sinnentleert wie das unsere.

Aber das ist ja unsere satte Tragödie in den Systemen der unbeschränkten Machbarkeiten: je sinnentleerter wir sind, desto mehr fressen wir in unsere nimmersatten Bäuche hinein, damit sie nur umso leerer werden und wir nur umso mehr fressen müssen. In makabrer Analogie zu den Tieren verwenden auch wir im Grunde unsere Intelligenz nur noch darauf, uns jenes Fressen zu besorgen, das wir zum Überleben brauchen. Intelligent ist, wer überlebt. Mit allen erlaubten und mehr noch unerlaubten Mitteln. Der einzige Unterschied zu den Tieren, die sich gerade das nehmen, was sie  brauchen: wir fressen die ganze Welt. Der Abfall dieser zwanghaften Beutesucht, dieser neurotischen Räuberei und Vermessenheit sind am Ende wir selbst: psychotischer, pathologischer Sondermüll, Gefäße mit unbestimmtem Inhalt.

Meine bisherigen Ausführungen könnten den Eindruck erwecken, ich wäre generell ein Feind der Wissenschaft und Technik, der Wirtschaft und des Fortschritts und obendrei ein ausgemachter Misanthrop. Ich bin es mitnichten.

Gewiß trage ich den Trauerflor so mancher humanistischer Ent-Täuschung in mir, und es spricht mehr Wehmut aus mir als Zorn. Aber jede Enttäuschung soll mich reifer machen.

Alles in allem bin ich in Sorge. Nicht in Panik, dazu ist das Leben zu schön. Und doch bin ich der festen Überzeugung, daß die verführte, funktionalisierte Intelligenz das Korrektiv der tieferen, vitalen Intelligenz des Menschen braucht. Sie wird auch unseren Politikern abzuverlangen sein. Insgesamt aber bin ich bereit daran zu glauben, daß uns Menschen ein Funke von Demut vor der Schöpfung erhalten geblieben ist.

Mag sein, daß wir ihren unermeßlichen Reichtum erst dann erkennen werden, wenn er uns endgültig verloren gegangen ist. Es mag aber auch sein, daß wir ihn erkennen, noch ehe zu spät ist. Es wird eine Frage unserer Entscheidung sein. Vielleicht sogar eine Frage des Kampfes, den manche von uns für die Würde des Lebens zu führen bereit sind. Ich bin es. Oder richter: ich will es sein. Ich bin aber nicht überzeugt, daß er gewonnen werden wird. Jedenfalls wird er uns selbst in der Niederlage mehr an Schönheit bringen, als uns das Verharren in der selbstmitleidigen Prognostik gegenwärtiger und zukünftiger Realität an Resignation über die Herzen schwemmt.

Nebst allen düsteren Gefühlen, mit denen uns die Entwicklungen der Gegenwart weltweit behaften, hat diese Zeit etwas ungemein Aufregendes, ja Gewaltiges an und in sich. Und nicht nur, um dies zu demonstrieren, stelle ich das folgende Beispiel an den Schluß meiner Ausführungen: es verdeutlicht darüber hinaus meinen Begriff von jener vitalen Intelligenz, der ich als einziger menschlichen Kraft die stete Wende zum Guten zutraue. Nachdem ich von der folgenden Begebenheit gelesen hatte, mußte ich weinen. Vor Scham und Dankbarkeit.

Karen und Cheryl sind Zwillingsschwestern. Die beiden heute elfjährigen Mädchen trennt und verbindet eine Eigenart der Natur. "Gott, wie war es schön, als Karen und Cheryl zur Welt kamen," sagt die Mutter der beiden Mädchen. "Wissen Sie, mein Mann Carl und ich, wir haben uns natürlich immer wieder gefragt: Wird unser Kind weiß sein, wie ich, oder schwarz wie er. Er sagte dann immer: Es wird schöner als weiß und schöner als schwarz, es wird braun. Sie können sich also die Überraschung vorstellen, als wir plötzlich Zwillinge hatten und ein Kind weiß und das andere schwarz war. Was haben wir darüber gelacht."

Das Lachen ist der Familie einer englischen Stadt bald vergangen. Nebst vielen anderen rassistisch durchdrungenen Vorfällen passierte auch folgende Episode:

Die Zwillingsschwestern hatten an einer Bushaltestelle über den etwas ausgefallenen Hut einer Frau gekichert. Daraufhin schnaubte die Frau die weiße Cheryl an: "Du könntest dir auch eine bessere Freundin aussuchen. Schämst du dich nicht." Cheryl, geprägt von einem zwanghaften Übereifer, ihre schwarze Schwester Karen vor anderen zu verteidigen, hat die Frau daraufhin gebissen.

Erst beim Verhör der Schwestern durch die Schulleiterin erfuhr die Frau mit dem Hut von der Blutsverwandtschaft der beiden Mädchen. Darauf begann sie zu weinen und flehte Karen um Verzeihung an. Am Wochenende darauf inserierte die Frau im Bezirksblatt:

"Allen Lesern dieser Zeitung versichere ich: Noch nie habe ich mich so sehr für ein Wort oder eine Tat geschämt. Das Mädchen hat mir in seiner kindlichen Großmut verziehen. Doch quält mich die Frage: Wird das zarte Wesen vergessen?"

Diese einfache, hochpoetische Botschaft einer einfachen Frau soll als Beleg für meine ganz privat getroffene Einsicht gelten: Scham und Trauer sind die tiefste und folgenschwerste Form der Erkenntnis. Und der höchste Grad an Intelligenz.

Hätten wir dies nach der beschämendsten Katastrophe dieses an beschämenden Katastrophen reichen Jahrhunderts, dem Holocaust, rechtzeitig kapiert - und es gab sie, die daran erinnerten, doch sie blieben ungehört -, wir müßten jetzt weniger Angst haben vor den abgehenden und letztlich unkontrollierbar werdenden fremdenfeindlichen und rassistischen Lawinen und all ihren absehbaren und unabsehbaren politischen Folgewirkungen.

Wir wären zumindest um jene Spur gefestigter, die unserem Handeln jene Gelassenheit verliehe, die es erhebt über das bloße, mitunter schon in Hilflosigkeit und Hysterie ausartende Reagieren.

Das Leben ist unser Reichtum. Nichts als das Leben. Mein Leben, dein Leben, das Leben aller Menschen auf diesem Planeten.

Versuchen wir, uns wieder daran zu erinnern.