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Eine ganze Vergangenheit ist detoniert

Das Interview ist in der Zeitschrift „Geschriebenstein“, Heft 22/23 im Frühjahr 1995 erschienen. Die Ausgabe beschäftigt sich ausschließlich mit dem Bombenattentat von Oberwart am 4. Feber 1995
Interview: Richard Neubauer

 »EINE GANZE VERGANGENHEIT IST DETONIERT«

Interview mit dem intellektuellen Gewissen des Burgenlandes, Peter Wagner

Seit Anfang Feber werden mit Oberwart Vorurteile in Richtung Fremdenhass, Rassismus und Ausgrenzung verbunden. Ist Oberwart stigmatisiert?

Wagner: Oberwart selbst wird wahrscheinlich das Gefühl haben, zu Unrecht zu diesem Ruf gelangt zu sein. Dennoch haben die Attentäter nicht zufällig Oberwart als den Ort ihres Krieges, den sie begonnen haben, gewählt, sondern konnten davon ausgehen, dass in Oberwart solch ein Attentat möglicherweise auf fruchtbaren Boden fällt. Und das ist ja nicht ganz von der Hand zu weisen. Wie Oberwart in Zukunft damit umgeht hängt vor allem davon ab, inwieweit wir hier bereit sind, uns diesem Stigma zu stellen. Das Fatalste wäre, und ich sehe leider Anzeichen in diese Richtung, dass die Oberwarter auch dieses Attentat verdrängen, dass die Oberwarter aus den Katastrophen dieses Jahrhunderts nichts gelernt haben und anfällig sind für die nächste.

Du hast Deine Jugend in Oberwart gelebt und hast nach wie vor ein inniges Verhältnis zu Oberwart: Was unterscheidet Deiner Meinung nach Oberwart vom Rest Österreichs, weil Du die These aufstellst, dass sich die Attentäter Oberwart bewusst als Ort ausgesucht haben.

Wagner: Alleine aus der Tatsache, dass Oberwart sechs Friedhöfe besitzt, einen römisch-katholischen, einen evangelischen, einen reformierten, einen jüdischen, einen russischen und auch einen sogenannten »Armenfriedhof«, in dem die Konfessionslosen verscharrt wurden, lässt sich der hiesige ethische und ethnische Reichtum ablesen. In diesem Vorort des Südburgenlandes hatte sich ein eigenes Leben des Miteinanders entwickelt. In dem allerdings eine Volksgruppe, und da kann man die Geschichte nicht beschönigen, ausgenommen war: die Roma. Es hat sich im Grunde in einem nach auf praktikable alltägliche Harmonie hin entwickelten Gesellschaftsgefüge eine implizite krasse Antiharmonie mitkultiviert, die zu den Roma. Wenn Beteuerungen seitens der Oberwarter Politiker kommen, dass wir uns Oberwarter nicht auseinanderdividieren lassen, dann ist das schlichtweg ein Wunschdenken. Es ist falsch, denn die Roma und Nicht-Roma haben in Oberwart nie wirklich zusammengehört, bis auf rührige Versuche einiger Leute, wie dem jetzigen Bürgermeister Racz, der aus seinem sehr profunden christlichen Ethos heraus handelt und hier auch eine Brücke zu schlagen imstande ist. Ob ihm die Oberwarter Bevölkerung dabei folgen wird, steht auf einem anderen Blatt.

Gibt es wesentliche Änderungen in Deiner Position im Vergleich zur sofortigen Reaktion, die auf Seite 32 nachzulesen ist?

Wagner: In der Seele jedes Stadtverantwortlichen ist nicht nur eine Bombe, sondern meiner Ansicht nach eine ganze Vergangenheit detoniert. Mit solch einer Wucht, dass man sich nur so dagegen schützen konnte, indem man das Attentat in den Bereich der vollkommenen Ungeheuerlichkeit gedrängt hat, wo man sich dann eigentlich nicht mehr politisch mit seinen Hintergründen auseinandersetzen muss. In dem Moment, wo man sagt, ein Wahnsinn ist über uns gekommen, hat man es sich schon etwas leicht gemacht. Bei Vizebürgermeister Gartner habe ich das Gefühl, dass bei ihm plötzlich eine Welt zusammengebrochen ist, dass er wirklich gelitten hat. Ich habe den Eindruck, dass er seit dem Attentat ein irgendwie veränderter Mensch ist. Nach solchen Menschen suche ich. Solche Menschen wären für uns in Oberwart sehr sehr wichtig, die dann auch die richtigen Schritte setzen und der bedrohlichen Entwicklung gegensteuern, sofern ihr Mut mit ihrer anfänglichen Betroffenheit mithält.

Haben sich Deiner Meinung nach viele Menschen verändert, die jetzt solidarischer den Minderheiten und Ausgegrenzten gegenüber sind?

Wagner: Ich sehe Leute in Oberwart, die mit einem berechtigten und auch offenen Schuldgefühl reagiert haben. Das andere ist die alltägliche Wirklichkeit der Kleinbürgergemeinde Oberwart. Der Kleinbürger nimmt sich in einer Art und Weise wichtig, die kein Herankommen an ihn möglich macht. Und zwar nimmt er sich nicht wichtig, weil er tatsächlich wichtig wäre, sondern weil er im Grunde sein schmales und sehr filigranes Persönlichkeitskorsett in überdimensionaler Weise aufzuplustern und zu schützen versucht. Diese Leute sind nicht sensibel für die Tragödie anderer Menschen, nicht einmal für die ihrer Mitbürger. Ich würde mir dennoch wünschen, dass sich viele Menschen in Oberwart durch dieses Attentat verändern hätten lassen, indem sie sich endlich den Blick in den Spiegel einer Selbsterkenntnis gestatten, der natürlich schmerzhaft ist. Jede Selbsterkenntnis berührt unangenehme Seiten in uns. Im Augenblick, wo sie stattfindet, wird man Furchtbares, vielleicht manchmal Grauenhaftes, jedenfalls sehr viel Unangenehmes sehen. Aber nur wenn man sich dem stellt, wenn man es zu sehen bereit ist, wird man sich selbst in größere Zusammenhänge einfügen können. Und das ist leider die furchtbare Ignoranz, nicht nur die des Oberwarters, dass er sich diesen Blick auf sich selbst nicht gestattet, auf seine eigene Fehlerhaftigkeit - wodurch er selbstgerecht wird. Selbstgerechtigkeit ist niemals eine dynamische Kraft, die hin zu gesellschaftlicher Solidarität führt. Tatsächlich befürchte ich, dass die Oberwarter im Wesentlichen keine weitere Auseinandersetzung zu dem Thema wünschen, außer dass sie es auf sehr ungustiöse Art und Weise für sich bewältigen, indem sie das Attentat als Wirtshauswitz abhandeln.

Du bist ja nicht nur der gesellschaftspolitische Peter Wagner, sondern vor allem auch der Künstler Peter Wagner. In welcher Art und Weise wirst Du als Künstler auf dieses Attentat reagieren?

Wagner: Meine ganze Arbeit der letzten 20 Jahre ist in diesem Themenbereich angesiedelt, weil ich es als 14jähriger schon nicht verstanden habe, dass ich bei meinem Fenster »Am Telek« in Oberwart rausschaue und dort draußen ein Ghetto sehe. Ich habe es nicht gefasst, dass es diese Ausgrenzung gibt. Der Zigeuner Purdi Pista, der weder in der Roma-Siedlung noch »Am Telek« integriert war, hat mir damals die KZ-Nummer auf seinem Unterarm gezeigt, und dort ist für mich eine Welt aufgegangen, die sich heute in entsetzlicher Form wieder zu artikulieren beginnt. Die Welt der Gewalt; Gewalt gegen das Wehr- und Hilflose, gegen das Anderssein, gegen das Bunte in uns. Es müssen sehr degenerierte Kreaturen sein, die dieses Angebot der göttlichen Schöpfung nicht annehmen können, und mit Bomben gegen alles vorgehen, was ihnen fremd ist, weil sie offenbar Angst davor haben, es nicht zu bewältigen. Insofern hat das alles einen furchtbar pathologischen Hintergrund. Und ich möchte auch die Sexualität der Bombenleger kennen. Dieses anonyme Bombenlegen, dieser Akt der grenzenlosen Feigheit auch vor sich selbst, dieses sich nicht Stellen, das ist doch systematisch auch für unsere Verdrängungsgesellschaft. Und wenn wir die Bombenleger auf ihre Sexualität befragten, dann würden wir wahrscheinlich auf Dinge kommen, die uns allgemein so wahnsinnig betreffen, dass es uns sehr sehr unangenehm wäre. Insofern ist ja gerade der Schlüssel der Sexualität in der Frage nach den Gewaltbereitschaften in unserer Gesellschaft ziemlich tabuisiert. Weil dann der Boden unserer Gewaltbereitschaft sich plötzlich sehr verbreitern würde in viele gesellschaftliche Schichten hinein, die heute noch von sich behaupten, wir sind ja clean, wir haben nichts damit zu tun. Wir verurteilen das ja.