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Die Leichenhallenkultur

von Peter Wagner
Erschienen in der 1. burgenländischen Umweltzeitschrift „Burgenländer! Wir brauchen keine intakte Umwelt!“, herausgegeben von den Aktionsgruppen ku-le-bum (Eisenstadt) und Oawaschlschluifer (Südburgenland) im Herbst 1979

Jede (fast jede) Gemeinde hat einen Friedhof.

Jeder (fast jeder) Friedhof hat eine Leichenhalle.

Jede Gemeinde mit Friedhof hat eine Leichenhalle zu haben.

Eine Wartestation für soeben Verstorbene auf dem Weg von der Endlichkeit des Fleisches zur Unendlichkeit des Staubes.

Sofern sie noch nicht fertig gestellt und eingeweiht sind, werden sie soeben fertig gestellt und eingeweiht.

Darüber hinaus ist es eine Ehre, der Premierentote zu sein.

Endlich hat der Leichengestank den Ort seiner Legitimation erhalten:

Zwischen demütig flackerndem Kerzenlicht darf er sich an glatten, stilecht kalten und unpersönlichen Betonwänden entlangschleichen, darf (und das ist die große Errungenschaft) „da sein“.

So wie dem Gestank der menschlichen Exkremente ebenfalls ein extra führ ihn reservierter Platz zugewiesen wurde, das Scheißhaus.

Während der Locus der menschlichen Exkremente allerdings im eigenen Haus existieren darf – schließlich gibt es geruchsunterbindende Hygienekugeln –, verhält es sich bei den Leichen etwas anders:

Hygienekugeln gegen Leichengestank sind noch nicht erfunden.

Und sind sie es schon, die Greißlerin in meinem Dorf führt sie jedenfalls noch nicht.

Man hat Leichenhallen erfunden. Nicht etwa, um sich damit einen Ort der intimen Begegnung zwischen den Lebenden und dem Toten zu schaffen (wie es solche Orte bei Naturvölkern gibt).

Die Gründe dafür lassen sich verkürzen auf:

Zweckmäßigkeit, Hygiene, Einteilung, Ordnung.

Auch der Tod ist dem weltlichen Rationalismus unterworfen.

Der Müll in den Müllkorb, die Leichen in die Leichenhallen. Man kann das Unnütze ja nicht einfach irgendwo rumliegen lassen!

Es wäre vermessen und kleinmütig, auf den wirtschaftlichen Aspekt der  Leichenhallenbauerei hinzuweisen. Auch die heimische Wirtschaft braucht Aufträge. Jeder muss und will von irgendwas leben und die vielen neuen Fertigbetonmischanlagen müssen sich irgendwann einmal rentieren.

Auch nützt es wenig, wollten wir uns auf die sicherlich richtige Feststellung versteifen, dass hier die heimische Architektenprominenz seine trivialkünstlerischen, gottesfürchterlichen Ambitionen austobt.

Wollen wir dem Phänomen „Leichenhalle“ näher kommen, müssen wir uns schon in komplexere Regionen der Erkenntnis vorwagen, wie sie sich dem kritischen Betrachter in der heutigen Industrie- und Konsumgesellschaft darstellen.

Beginnen wir bei der auffallend symetischen Bauweise.

Sicher wird man einwenden können, auch ein gotischer Bau sei in höchstem Maß vom Prinzip der architektonischen Symmetrie gekennzeichnet.

Doch während die gotische Geometrie gewiss noch den demütigen, zugleich aber höchst künstlerischen Ausdruck menschlicher Suche nach Orientierung in einer von Gott geschaffenen Wirklichkeit darstellt, ist der neuzeitlich aufgeklärte Mensch schon einen beträchtlichen Schritt weiter.

Er orientiert das göttliche Wunderwerk der Schöpfung am eigenen, erschöpften zivilisatorischen Prinzip, das da lautet: Recht eckig und symmetrisch über alles!

Er geht den ewigen Identitätskonflikten zwischen Form und Inhalt dadurch aus dem Weg, dass er beides für identisch erklärt. Und ist nicht in der Tat ein schönes rechteckig-symmetrisches Hochhaus der höchste Ausdruck des menschlichen Ordnungs- und Bewältigungswillens, formal wie inhaltlich, das eine durch das andere?

Das Rechteck im Hirn scheint überhaupt die bestimmende, von innen nach außen, von außen nach innen gekehrte Kraft des modernen Menschen, die Symmetrie jene Basis zu sein, auf der er Standfestigkeit, Ausgewogenheit und das vielgerühmte bürgerliche Mittelmaß aller Dinge erreicht.

Fiktion, Träume, mystische Kräfte, Fantasie erscheinen in einer Welt der absoluten Machbarkeit, der Durchorganisierung und lückenlosen Verwaltung des Alltags bis hinein ins kleinste Detail als überflüssige Spielzeuge aus dem humanitären Mittelalter, die noch dazu gefährlich zu werden drohen, sobald sie das eitle Selbstverständnis unseres mathematischen Rechteckdenkens infrage stellen.

Dementsprechend wird der Tod des Menschen – als sein Nicht-mehr-vorhanden-sein – ins Rechteck gepresst.

Das Schema für sich verspricht schon Lösung und Bewältigung. In einer Welt, in der die mathematische Formel zur einzigen verbindlichen Wahrheit avanciert ist.

Erkenntnis I: Man baut die Leichenhallen, wie man die Wohn- und Bürohäuser, die Schulen, Kulturzentren und militärischen Anlagen baut.

Oder: Man baut die Schulen, Kulturzentren und militärischen Anlagen, Büro- und Wohnhäuser so und nicht anders (nämlich eckig, symmetrisch, zweckmäßig, kalt und ohne Fantasie), weil man auch die Leichenhallen nicht anders bauen würde.

Womit wir beim nächsten Glied unserer Erkenntniskette angelangt wären:

Die Leichenhalle als Asyl für die Ausgestiegenen.

Die Vorstellung vom Tod, mit dem man zumeist nur körperliches Nicht-mehr-vorhanden-sein oder auch bloß den Sterbeprozess  assoziiert, ist unangenehm.

Das Leben ist doch so schön.

– wenn man dieses oder jenes Produkt kauft, sagt die Werbung. Und dieses Produkt ist garantiert käuflich. Also auch das schöne Leben.

Hinter der Werbung stecken Industrie und Wirtschaft. Sie haben es nicht nur geschafft, den Menschen der industrialisierten Welt Wohlstand zu bringen (oder was immer man darunter versteht), sondern sie auch mehr von sich abhängig zu machen als umgekehrt.

Industrie und Wirtschaft ist von der Technik abhängig, und diese nur mehr insofern vom Menschen, als sie seine Erfindungsgabe braucht.

Der Mensch ist somit zum reinen Spekulationsobjekt, zum notwendigen Übel einer sich verselbständigenden Produktionsmaschinerie geworden.

Er ist selbst Produkt und Ware und Handelsobjekt.

Die von ihm betriebene Konservierungs- und Unterhaltungsindustrie versucht in ihm die Vorstellung vom ewigen irdischen Leben in Glück und Zufriedenheit und Reichtum zu perfektionieren, sofern er nur imstande und Willens ist, sich dieser Industrie hinzugeben.

Und heutzutag kann man doch wirklich alles haben, damit das Leben schön wird.

Wozu also der Tod?

Bei dem vorherrschenden Angebot aller glücklichmachenden Dinge ist der Tod unnötig.

Der Tote auch.

Ihn im eigenen Haus, d.h. in der eigenen Wirklichkeit aufzubahren brächte die Gefahr mit sich, mit dem Sterben des Menschen inmitten einer bunten und angeblich sorgenfreien Welt auf elementare Weise Bekanntschaft zu machen.

Es aus seiner monströsen Flüchtigkeit herauszuschälen und über die oberflächlich trauernde Anteilnahme hinaus in sich selbst wesentlich werden zu lassen.

So aber erlaubt es uns der (gemachte) Glaube an das Glücklichsein durch den Besitz aller glücklichmachenden Dinge, den Tod eines nahe stehenden  Menschen als schockartiges Verlusterlebnis zu empfinden. Man überwindet es dadurch noch am besten, dass man sich von der Vorstellung des eigenen Verlorengehens befreit und den Verlorengegangenen (ist gleich Verlust ist gleich Pleite) so schnell wie möglich in ein für derartige Pleiten vorgesehenes Haus verdrängt, in die Leichenhalle eben.

Der Leichenschmaus wird folgerichtig nicht mehr als Fest des Lebens im Angesicht des Todes, sondern als Verzehr der Konkursmasse des Toten im Angesicht des (wie ein Besitz) verloren gegangenen Lebens gefeiert.

Erkenntnis II: Die Verdrängung des Todes, selbst in seiner veräußerlichten Form als Leiche, wird umso notwendiger, je mehr Wirtschaft, Industrie und Medizin den Traum des Menschen von seiner Unsterblichkeit als Grundlage ihres ungehemmten Expansionsdranges missbrauchen.

Erkenntnis III: Gründe der Hygiene erweisen sich bei näherer Betrachtung als vorgeschobene Rechtfertigungen für die Angst des auf materiellen Besitz orientierten Menschen vor der Vorstellung seines Daseins als verwesender Endlichkeit. Dieses elementare, jedoch verdrängte Wissen führt zu einer generellen Erlebnissterilität, die umgekehrt wieder durch von der fortschrittlichen Technik gewährleisteten Ersatz kompensiert zu werden verspricht.

Hat man den Toten (den Tod) nun endlich außer Haus gebracht bzw. aus der eigenen Realität verbannt, reduziert sich das Ritual des Bestattens auf seine von äußerlichen Notwendigkeiten bestimmte Form.

Und Formalitäten zu erledigen ist man gewohnt.

Wodurch sich das Risiko einer tief greifenden Berührung mit dem Toten abermals verringert.

Erkenntnis IV: Der Gang zur Totenwache und zum Begräbnis kommt dem lästigen, aber leider notwenigen (weil vorgeschriebenen) Gang zur Behörde zwecks Verlängerung eines Reisepasses gleich. Die Erledigung dieses notwendigen Übels garantiert jedoch Ruhe für die nächsten Jahre d.h. bis zum nächsten Toten.

Erkenntnis V: Nur wer nicht wirklich zu leben imstande ist, hat es nötig, den Tod zu verdrängen. Tatsächlich wird er jedoch nur von der Oberfläche verdrängt, daher weder bewältigt noch integriert. Die Gesellschaft als Spiegelbild des Menschen und der Mensch als Spiegelbild der Gesellschaft sind hinter der glanzvollen Fassade des Wohlstands durch Technik und Industrie immer deutlicher von jener gigantischen Krankheit gezeichnet, deren Existenz immer drastischer zu leugnen versucht wird.

Diese Krankheit nennt sich Tod.

Erkenntnis VI: Jede Leichenhalle hat ihre Gemeinde.

Erkenntnis VII und Fazit:

Es werden nur mehr Leichenhallen gebaut.