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Manfred Bockelmanns Reinigungsarbeit

Von Peter Wagner
4. November 2015, Offenes Haus Oberwart
Rede anlässlich der Eröffnung der Ausstellung "Zeichnen gegen das Vergessen" von Manfred Bockelmann am 4. Feber 2015 im Offenen Haus Oberwart (20. Jahrestag des Attentats von Oberwart)

Als der Oberwarter Rom und Musiker Stefan Horvath, der den Künstlernamen Purdi Pista trug, den Ärmel seines Hemdes aufkrempelte und mir die auf seinem Unterarm eintätowierte Nummer zeigte - ich war damals fünfzehn Jahre alt -, blickte er mir in die Augen und fragte, ob ich Auschwitz kenne. Ich verneinte. Er wartete ein wenig zu, als wollte er noch einmal ein- und ausatmen, um sich der Tragweite seines Gedankens zu versichern, und sagte dann in ruhiger, gefasster, unaufgeregter Sprache: „Auschwitz, das ist die Hauptstadt von der Welt.“

Wir haben uns für heute und die nächsten Wochen etwas von der Hauptstadt nach Oberwart geholt, wobei es, wie ich denke, müßig ist zu betonen, dass Auschwitz nur der eine, wenn auch gewichtigste Bezirk jener Hauptstadt ist, deren andere Bezirke die Namen Dachau, Buchenwald, Theresienstadt, Mauthausen, ?ód?, Treblinka, Schloss Hartheim und Spiegelgrund tragen, nur um einige davon zu nennen.

Derjenige, der uns einen Teil dieser Hauptstadt, einen der furchtbarsten unter den vielen furchtbaren Aspekten der Hauptstadt von der Welt 70 Jahre nach Ende des Schreckens, der nie endet, nie enden kann, nach Oberwart gebracht hat, ist Manfred Bockelmann. Dieser erste Teil des heutigen Abends, sozusagen das Vorspiel zu einem Gedenkakt nach einem Verbrechen, das ein Nachfolgetäter aus der Hauptstadt in Oberwart verübt hat, dieser erste Teil hier nimmt sich aus wie ein Metablick, ein in das Drama der Menschenherrlichkeit, der Menschenverachtung, der Menschenvernichtung, der Menschen Trauer verpackter Versuch, den direkten, den unzensurierten Blick in unsere Seele zu werfen - es zu tun über die Zugangspforte der Augen von Kindern.

Das ist, so oder so, ein riskanter Versuch. Der- oder diejenige aber, der oder die ihn unternimmt, wird nicht mehr losgelassen sein und nicht mehr loslassen. In den Eingang unseres Hauses haben wir das Zitat von Manfred Bockelmann gehängt: „Diese Arbeit wird für mich nie zu Ende sein“: der Blick in die Augen der Sakrosankten, der Unschuldigen. Wer ihn einmal getan hat, wird mit diesem Blick zu keinem Ende kommen. Er, der Künstler Manfred Bockelmann, hat es so eingerichtet, dass dieser Blick kein Ende nimmt. Wo auch? In uns? In der Geschichte? In der gegenwärtigen Realität? In der noch immer, erneut und schon wieder Kinder und Jugendliche gekidnappt, vergewaltigt, ermordet oder zu Kinderarbeitern und Kindersoldaten getrimmt werden, oft im Namen eines heiligen Auftrags, den der methodische wie aktive Terrorist als Sendung missversteht, um der Grenzwertigkeit seines Missbrauchs Legitimität zu verschaffen.

Ich begrüße, aufs Innigste und aufs innigst Verbunde, Manfred Bockelmann in unserer Mitte.

Nein, dieser Blick hat kein Ende. Sehen Sie nach links, sehen Sie nach rechts: dieser Blick ist da. Jetzt und hier. Nirgendwoanders als: jetzt und hier. Das macht ihn so bedeutsam und groß - und so furchtbar für uns.
Dieser Blick hat aber, interessanterweise, auch keinen Anfang. Man stößt zu ihm, weil er da ist. Weil er die Urerinnerung ist. Es ist der Blick von uns allen noch vor der Vertreibung aus dem Garten Eden. Es gibt keine Möglichkeit, ihm zu entrinnen, eben weil er die Urerinnerung ist. Weil er ein Teil von uns ist aus lange vergangener Zeit, aus der Zeit der Unschuld.

Was den Künstler Bockelmann unterscheidet von uns nur Mitbeteiligten: Er hat, im direktesten, auf diesen Blick zugegriffen und im Akt des Zeichnens, des Sichtbarmachens die Passivität der Betroffenheit in ein Aktivum verwandelt. Damit ist er einerseits auf die Unschuldigen zugegangen, auf die von den Nazis ermordeten Kinder in den Konzentrationslagern und Euthanasiestätten, auf Kinder von Juden, Roma und Sinti und politisch Verfolgten. Andererseits geht er durch die wie schwebend im Raum hängenden, stets leicht flatternden Portraits aber auch auf uns zu, die wir meist nur Konsumenten der Geschichte sind. So schafft er das Unausweichliche des Hier und Jetzt, das uns – selbst den Nachgeborenen – ein Entweichen nicht mehr möglich macht. Wer dieses Hier zu den Augen und Gesichtern dieser Menschen, der Kinder, nicht aufbauen kann, der hat im direktesten kein Hier im Leben.

Die meisten von uns aber haben ein Hier im Leben. Deshalb schon können wir nicht weg, deshalb schon sind wir Atmende in einer Beziehung zu den Augen und Gesichtern, auch Gefangene derselben, aber doch auch Erlebende eines Hier. Der Künstler hat sich gequält und befreit zugleich. Und er quält und befreit uns zugleich. Wer möchte hier nicht die Analogie zur griechischen Tragödie erkennen, deren kathartische Bestimmung den Auftrag beinhaltet, uns zu reinigen, weil sie die Möglichkeit hat, uns zu erschrecken. Die Arbeit von Manfred Bockelmann ist also, noch vor aller Erinnerungsarbeit, eine Reinigungsarbeit. Wenden Sie den Blick nach rechts, wenden Sie ihn nach links: Das ist Schreckensarbeit, das ist Reinigung. Ich rede von einer - letztendlich - archaischen Aufgabe, die diesen Bildern innewohnt. Enthoben der Fotografie durch die Rückführung in die Asche, einer Wandlung der Kohle - grausamer und befreiender lässt sich der Auftrag der Kunst nicht beschreiben.

Und doch hat Manfred Bockelmann betont, dass es sich bei den gezeigten Portraits nicht um eine Kunstausstellung handelt: Es ist mehr, vielleicht auch weniger und in diesem Weniger vielleicht doch auch wieder mehr: Es ist die Provokation des direkten, unsausweichlichen Erlebens, einer nicht mehr gültig beschreibbaren Tiefenauslotung in der atavistischen Substanz unseres Lebens, von der es letztlich nur die Ahnung gibt, vielleicht auch die Ahnung auf Erlösung.