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Purdi und die Hauptstadt von der Welt

Von Peter Wagner
Der Standard, ALBUM, 31. Jänner 2015
Gekürzte Version des Kapitels „Der Schritt“ aus dem Beitrag „Dreimal an einen Beginn“ für das Buch „Das Attentat von Oberwart – Terror, Schock und Wendepunkt“, Hg. Annemarie Klinger und Erich Schneller, edition lex liszt 12, 2015;
Erstpräsentation: 3. Feber 2015, 18.30 Uhr, Parlament Wien.

Heute noch sehe ich Purdis langen Schatten durch die Straßen Oberwarts wanken. Von allen Zigeunern war Purdi der Überzigeuner: Wenn er wankte, wurde der Gehsteig für ihn freigemacht. Die meisten zogen es vor, die Straßenseite zu wechseln.
Purdi Pista war so etwas wie Stefan Horvaths Künstlername. Purdi, so hatte ich mir sagen lassen, sei der ungarische Begriff für „kleiner Zigeunerjunge“, Pista der ungarische Kosename für Stefan. Purdi hatte sich nach der Rückkehr aus dem KZ Ausschwitz, in dem er seine erste Frau und die drei Kinder verloren hatte, eingebildet, innerhalb der Oberwarter Bevölkerung ansässig werden zu können. Das brachte ihm gleich doppelte Schmähung ein: Einerseits gelang es ihm nie, als Zigeuner die Reserviertheit der Kleinbürgersippe Oberwart zu überwinden; andererseits mieden ihn die Roma aus der Siedlung am Westhang der Wart als Abtrünnigen.
Der große Purdi also, selbsterklärter Weltmeister auf seinem Cymbal, in realer Statur nicht viel größer als ein Besen und auch nur unwesentlich voluminöser als solch einer, hatte sich in dem Versuch, das KZ aus dem Gedächtnis zu stemmen, erfolgreich in den Suff gerettet. Als Volksschulkind hatte ich eine als abgründig zu bezeichnende Angst vor ihm und seiner kantigen Erscheinung mit spitzer Nase, spitzen Ohren, spitzem Kinn und den satanisch tief liegenden Augen. Nicht nur einmal musste ich beim Nachhauseweg vom Judo-Training der schwarzen Figur, die mitten auf der Straße wie verwurzelt aus dem Asphalt wuchs, ausweichen. Wenn mich sein Blick traf, der präzise Röntgenblick des rauschhaften Wissens, traf mich ein unerhörtes Gericht. Dazu eine von Rauch und Alkohol in tiefste baritonale Färbung gesunkene Stimme, die sich direkt aus den Eingeweiden der Unterwelt an die Erdoberfläche hochzurülpsen schien. Sie konnte eine Häuser durchsägende Gewalt entwickeln, wenn er seinen Fluch auf die Hitler und die Hitlerinnen in die Welt spuckte. Nicht nur einmal träumte ich in meinen unschuldigen Nächten von diesem Blick, von dieser Stimme, von diesem Ungeheuer.
In einer Ecke meines Kinderzimmers lehnte eine kleine, ewig verstimmte Gitarre. Immerhin hatte ich schon vernommen, dass der kleine schwarze Mann vor dem endgültigen Suff ein begnadeter Musiker gewesen sein soll. Und so riskierte ich, als damals bereits Fünfzehnjähriger, das bis dahin Unvorstellbare: Bewehrt mit der Gitarre bog ich von der Straße meines Elternhauses in die Gasse ein, in der, gut versteckt, ein kleines Häuschen hinter einigen Bäumen und Büschen stand.
Und siehe da, ich traf auf einen Mann, der im nüchternen Zustand äußerst liebenswürdig, ja verschmitzt und charmant sein konnte. Er schlief in der Küche, um die Bewegungen in seinem Haus im Auge behalten zu können. Die Frau war schon vor Jahren gestorben. Ich begründete meinen Besuch mit dem Wunsch, von ihm für die Begleitung eines selbstverfassten Liedes die richtigen Akkorde auf der Gitarre beigebracht zu bekommen. Er setzte sich von der Couch auf, sah mich an und sagte: „Na fang an.“ Schon nach dem zweiten Akkord unterbrach er mich. „Nein, so geht das nicht!“ Nein, so ging das wirklich nicht. Aber es ging vieles andere seit diesem Tag, die Tür in die andere Welt, in die eigentliche Welt war aufgetan.
Von nun an schlich ich mich immer öfter in diese Gasse, zuletzt wie ein Süchtiger. Purdi ließ sich seinen Unterricht durchaus mit einer nicht unwichtigen Gegenleistung entlohnen: Da ein Lokalverbot im gesamten Bezirk über ihn verhängt worden war, brachte ich ihm den Wein in einer Bierflasche mit Stoppel aus einer Spelunke unten an der Steinamangerer-Straße. Ich war zu dieser Zeit schon Besitzer eines der damals in Mode gekommenen Kassettenrekorder, der über ein eingebautes Mikrophon verfügte. Purdi staunte, als er aus dem kleinen Lautsprecher seine eigene, soeben aufgenommene Stimme hörte. „Wozu brauchst du das?“, fragte er. Für eine Sekunde hing der Verdacht in seinen Augen, ich würde ihn lediglich aufsuchen, um ihn „auszuhören“, ich sei womöglich gar von der Polizei oder einer anderen Behörde geschickt. Ich antwortete, ich wolle nur die Akkordfolgen der Lieder aufzeichnen, um sie zu Hause besser üben zu können. Das aber war nur die halbe Wahrheit. Denn ich vermute, dass es mir schon damals darum ging, etwas von dieser kuriosen Erscheinung festzuhalten, seine Stimme und all das, was sie zu erzählen hatte, für einen unbenannten Zeitpunkt zu konservieren.

Klar, es war die auf seinem Unterarm eintätowierte Nummer, die mit einem Schlag alles, was ich bis dahin kannte, in Frage stellte. Es war natürlich auch seine wiederholt an mich gerichtete Frage, ob ich Auschwitz kenne. Als ich wiederholt verneinte, antwortete er, nach der immer gleichen, nachdenklichen Pause und mit stets klarer, gefasster, ruhiger Stimme: „Auschwitz, das ist die Hauptstadt von der Welt.“ Das war der Unterricht, den weder Elternhaus noch Gymnasium bot. Ohne es zu wissen, hatte Purdi ein für allemal die unbedarft lauernde Stille meiner Kindheit zerstört und mich zu einem erwachsenen, wie verrückt brennenden Menschen zertrümmert.
Ich weiß heute nicht mehr, ob ich in meinem Elternhaus etwas von meinen Besuchen bei Purdi Pista erwähnte. Ich erinnere mich nur, dass mein Vater am Mittagstisch einmal sagte, er sei an den Zigeunern zerbrochen. Er, der redliche Volksschullehrer in Unterwart, konnte es nicht ertragen, dass die Zigeunerkinder aus der Unterwarter Siedlung den Unterricht schwänzten, wann immer sie wollten. Dass sie sich eine Freiheit herausnahmen, die für jedes andere Kind schlichtweg undenkbar war. Jahrzehnte später erzählte mir ein anderer Stefan Horvath, dass es den Zigeunerkindern unmöglich gewesen sei, zur Schule zu gehen, wenn die Mutter ihre Hose wusch: Jedes Kind hatte nämlich nur eine Hose.
Ich jedenfalls war an keinem Zigeuner zerbrochen. Einer hatte etwas in mir zerbrochen, um meinen Blick zu weiten. Diesem meinem Lebenslehrer wollte ich ein Denkmal setzen. Im Herbst nach der Matura verfasse ich das Hörspiel „Purdi Pista sagt, die Cymbal ist tot“, das ich 1975 bei Internationalen Hörspieltagen vortragen durfte. Die Erstproduktion wurde über das ORF-Landesstudio Burgenland noch im Juli desselben Jahres ausgestrahlt. Die Oberwarter Zeitung berichtete, die beiden burgenländischen Parteizeitungen berichteten. Und in manchen Oberwarter Wohnungen gingen die Wogen so hoch, dass sie schließlich zu wochenlangem Telefonterror bei meinen Eltern führten. Den auch an den Roma verübten Massenmord durch die Nazis öffentlich anzusprechen, stellte Mitte der siebziger Jahre noch immer ein Sakrileg dar.
Purdi Pista selbst konnte von seinen Kindern nur mit Mühe daran gehindert werden, das Radiogerät aus dem Fenster zu werfen, weil er da vermeintlicherweise sich selbst sprechen hörte, allerdings mit einer Stimme, die nicht seine war. Meine Scham nicht nur darüber, sondern auch über den mir selbst gemachten Vorwurf, Purdi letztlich ja doch nur „ausgehört“ zu haben, war so groß, dass ich sein Haus nicht mehr betrat.
Ich habe immer wieder über den Schritt, Purdi Pista in seinem Haus aufzusuchen, nachgedacht. Mittlerweile bin ich ziemlich sicher, instinktiv getan zu haben, was man tut, um eine Angst zu überwinden: so konkret wie möglich auf seine Ursache bzw. seinen Verursacher zuzugehen. Zusätzlich dürfte ich gespürt haben, dass ich mit und in diesem Schritt nicht nur auf eine Erschütterung gefasst sein musste, sondern diese auch wollte, weil ich sie im tiefsten brauchte. Der Kleinbürgersumpf meines Kindheitsortes war ein Erstickungssumpf, in dem sich für jeden, der nicht nachdachte, ganz gut leben ließ. Dass hier allerdings einer mitten auf der Straße stand und seinen rauschhaften Fluch über die Hitler und Hitlerinnen in die Provinz donnerte, musste selbst dem Volksschüler eine Bedeutungsschwere vermitteln, der irgendwann einmal, so oder so, nachzugehen war. Von den sonst so wichtigen Instanzen, also von Elternhaus, Verwandtschaft, Schule und Öffentlichkeit, kam ein Angebot in diese Richtung jedenfalls nicht.
Sehr viel später und erneut durch Stefan Horvath, den schreibenden Rom aus der Oberwarter Siedlung, erfuhr ich auch von der anderen Seite der Angst. Er sagte, er kenne das Problem der Roma mit ihrer Ängstlichkeit nur zu gut. Kann es also tatsächlich sein, dass jener Zigeuner, vor dem ich solche Angst hatte, dass ich sie nur überwinden konnte, indem ich den Schritt über seine Türschwelle tat, dass genau dieses Monster meiner Kindheit nichts anderes war als ein Mensch mit Ängsten, mit überbordenden Ängsten gar, die sich nur in der rauschhaft aggressiven Attitüde Luft verschaffen konnten? Lange, allzu lange konnte ich es mir nicht vorstellen. Vermutlich wollte ich nicht, dass einer, der so unermesslich groß war, dass er alle meine Phantasien dominieren konnte, herunterfällt in die Niederung profanen Empfindens. Genau dort aber ist er für mich heute wieder zu suchen: nicht mehr als öffnender Dämon, sondern als einer, der die Hauptstadt von der Welt überlebt hatte, ohne sich seinem Drama dadurch entziehen zu können.