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Rede an Oberwart

von Peter Wagner
Die Rede wurde am 11. Feber 1995 nach dem Begräbnis der vier Roma, die beim Bombenattentat von Oberwart das Leben verloren hatten, bei einer Veranstaltung vor dem Oberwarter Kriegerdenkmal gehalten. Weitere Redner: Nationalratspräsident Dr. Heinz Fischer, Dr. Heide Schmidt, Willi Resetarits u.a.

Lieber Oberwarterinnen und Oberwarter,

Euch, und Euch alleine gelten heute meine Worte, egal in welcher Anzahl Ihr Euch heute unter den hier Versammelten befindet.

Wenn die Vielen, die heute in unsere Stadt gekommen sind, um hier nach einem Ausdruck ihrers Widerstandes gegen einen verheerenden, heraufdämmernden Zeitgeist zu suchen, wieder abgezogen sind, wenn die Meute der Berichterstatter, die oft genug ihr Handwerk nicht als seriöse Mitteilung, sondern als blanke Räuberei an der Tragödie von Menschen handhabt, wieder zur nächsten Sensation abgesprungen sind, dann werden wir, Oberwarterinnen und Oberwarter, wieder alleine sein mit uns und dem Unfassbaren, das uns widerfahren ist - und das wir uns widerfahren haben lassen!

Eines muss uns klar sein: Oberwart ist seit dem vergangenen Sonntag ein in Österreich, ein in Europa bekannter Name. Er steht für - egal, ob wir das ablehnen oder nicht, und wahrscheinlich haben wir selbst es noch am wenigsten erfasst - er steht für Minderheitenfeindlichkeit, Diskriminierung, Menschenverachtung, Rassismus und Mord. Oberwart ist das Rostock Österreichs. Mit diesem Stigma, mit dieser grausamen Etikette werden wir leben müssen. Und nicht nur die nächsten Wochen, nicht nur die nächsten Jahre. Sondern die nächsten Generationen.

Man kann also von einem Schicksalsschlag für Oberwart sprechen. Und doch dürfen wir jetzt nicht weinerlich werden. Das Geschehene ist unumkehrbar. Jetzt stellt sich nur noch die Frage: Wie werden wir damit umgehen? Werden wir abermals das tun, was wir so lange getan haben und was wir so gut können: unsere Geschichte zu verdrängen, dort wo sie uns unangenehm ist? Und am Beispiel unserer Mitbürger, der Roma, ist sie uns am aller unangenehmsten. Werden wir der schnellen Versuchung unterliegen, zu beteuern, wir hätten ja doch ein friedliches Nebeneinander gelebt, und im Grunde wäre ja doch alles in Ordnung gewesen zwischen uns und den Roma? Oder werden wir sogar unsere Wut auf die mediale Entblößung Oberwarts wieder an jenen auslassen, die wir ja nach wie vor als die Schuldigen eines Dilemmas ansehen, dem wir uns selbst niemals wirklich stellten?

Wann wenn nicht jetzt müssen wir uns eingestehen, dass unser Zusammenleben alles andere als in Ordnung war! Wann wenn nicht jetzt müssen wir begreifen, dass nicht die prädestinierten Opfer die Schuldigen sind! Und wir haben kein Recht mehr, unserem eigenen Spiegelbild auszuweichen: wir sind keine schlechteren Menschen als andere Menschen. Wir sind aber auch keine besseren. Und wir tragen unter der Fassade eitler Selbstgefälligkeit auch Züge des Hasses und des Gleichmuts, als deren Beute uns seit Generationen die Roma gedient haben.

Es ist Zeit, dass wir uns aus den bequemen Gefängnissen unserer Selbstzufriedenheit hervorwagen. Lasst uns reden, über uns! Und nur, wenn es uns gelingen sollte, zu einem behutsamen, von gegenseitigem Respekt getragenen Miteinander an Stelle eines ignoranten Nebeneinanders zu finden, wird das, was wir als Schicksalsschlag für Oberwart erachten, unsere Chance auf ein großes menschliches Experiment gewesen sein. Und ich bezeichne es bewusst als Experiment, obwohl das Miteinanderleben eine Selbstverständlichkeit sein sollte, weil es ja doch auch ein Wagnis bedeutet, nach solch einer Wahnsinnstat nicht in Scham oder weiteren Hass zu versinken, sondern erst recht aufeinander zuzugehen.

Und dazu gehört als erster Schritt die entschiedene Ablehnung solch eines Verbrechens an Euren Mitbürgern, die entschiedene Ablehnung jeder gesellschaftlichen Entwicklung, die uns erneut zu Verfolgung und Ausrottung führt. Hören wir auf damit, in den Wirtshäusern und Wohnzimmern uns durch dumme Sprüche und Verharmlosungen uns zu den geistigen Komplizen der Mörder zu machen!  Beginnen wir stattdessen einen Dialog, und seien wir darauf gefasst, dass er mitunter schmerzen wird. Wir müssen den Schmerz der Selbsterkenntnis wollen, wir müssen es wollen, dass vieles uns Unangenehmes, vieles Verdrängtes hochkommt. Und nicht bloß, um einen ruinierten Ruf wiederherzustellen, sondern um unserer selbst willen: wer zu feige ist, sich seinem seelischen Spiegelbild zu stellen, wird niemals zu sich finden - und noch weniger zu den anderen.

Laufen wir nicht mehr davon vor der Notwendigkeit des Dialogs, mag er auch unbequem sein. Verstecken wir uns nicht länger vor den Problemen, die wir haben. Schauen wir sie uns an, hören wir sie uns an! Lasst uns eine Sprache mit den Roma finden, nicht gegen sie! Das ist der einzige Weg, Gleichgültigkeit, Hass und Vorurteile zu überwinden. Und wir müssen sie überwinden, wollen wir nicht, dass die Saat der Täter aufgeht. Sie soll keinen fruchtbaren Boden finden, soviel Stolz müssten wir doch immerhin in uns haben!

Und an die Roma in diesem Ort richte ich folgenden Appell: Verschließt euch nun als Reaktion auf dieses grässliche Attentat nicht noch mehr vor uns, obwohl ihr allen Grund dazu hättet, mit Angst und Misstrauen zu reagieren. Geht zu auf uns, wenn ihr merkt, dass wir zu kleinmütig sind, um unsererseits auf Euch zuzugehen. Schweigt nicht, wenn wir ungerecht zu Euch sind! Lehrt uns das zu begreifen, was zu begreifen wir uns so lange weigerten in unserer Distanz zu allem Fremdartigen, allem Unbekannten, weil es uns heimliche Angst einjagt und letztlich unheimliche Aggression. Helft auch Ihr uns, Euch die Roma, zu erkennen als lebensbejahende, freiheitsliebende und entgegenkommende Menschen! Jedes Volk auf diesem Planeten ist der Reichtum dieses Planeten. Jede Sprache der Welt ist der Reichtum der Welt.

Wir sollten den so lange im Tiefschlaf schlummernden Reichtum in dieser Stadt endlich wach küssen!