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Der lange Schatten eines Denkmals

Vortrag von Peter Wagner
im Rahmen des 9. Dialogforums Mauthausen am 19. September 2017

Geschätzte Damen und Herren,

mein Name ist Peter Wagner, ich bin Autor und Regisseur. Vieles, wovon ich Ihnen heute erzähle, hat mit dem Land zu tun, in dem ich geboren und aufgewachsen bin und in dem ich, sieht man von kleinen Unterbrechungen ab, bis heute lebe. Überwiegend viel hat mit dem Burgenland zu tun, wenn auch nicht ausschließlich mit diesem, obwohl ich mich in der gesamtösterreichischen Rezeption doch sehr stark auf dieses Land zurückgeworfen sehe, zumindest aber fühle.

Ich wurde am 7.6.1956 in Wolfau, einem kleinen Ort am burgenländisch-steirischen Grenzfluss Lafnitz geboren und bin im zweisprachigen Unterwart und im dreisprachigen Oberwart aufgewachsen, jenem Ort also, der durch das Attentat von 1995 zu temporär europaweiter Bekanntheit gelangen sollte.

Das Gymnasium besuchte ich in Oberschützen, wobei mich die Anfahrt per Bahn täglich an dem sog. Anschlussdenkmal, der Schulweg vom Bahnhof zum Gymnasium am sog. kleinen Anschlussdenkmal vor der Hauptschule vorbeiführte. Das große Anschlussdenkmal wurde 1938 an einer landschaftsdramaturgisch äußerst geschickt gewählten Anhöhe erbaut und wirft heute noch seinen langen Schatten über das archetypische Grenzland im Osten Österreichs. Seit 1997 ist es mit einer kleinen Tafel versehen, die mit der hilflosen Umetikettierung des einstigen Anschlussdenkmals zu einem nunmehrigen „Bedenkmal“ dessen einstige Funktion eher verschleiert als nur beschweigt. Im übrigen ist allen in der Region bekannt, dass sowohl das große als auch das kleine Anschlussdenkmal Ziel deutschnationaler Tourismusbewegungen sind. Am 26. Oktober 1991 kam es beim kleinen Anschlussdenkmal, dem „Deutsch-allzeit-Denkmal“, zu einer von der „pennalen Burschenschaft GRENZWACHT“ und dem „Freiheitlichen Akademikerverband Wien, Niederösterreich und Burgenland“ organisierten „Gedenkfeier und Kranzniederlegung für die 1921 bei den Kämpfen um das Burgenland getöteten Gendarmeriebeamten und Zivilisten“, dessen abschließendem „Burgenland-Kommers“ im örtlichen Kulturzentrum auch der damalige Landeshauptmannstellvertreter von Kärnten Dr. Jörg Haider beiwohnte.

Zehn Jahre davor, also 1981 anlässlich des sechzigjährigen Bestehens des Burgenlandes, wollte ich das große Anschlussdenkmal auf seiner weithin sichtbaren Anhöhe das erste Mal in schwarzen Stoff verpacken. Ich hatte bereits eine Finanzierungszusage seitens des sozialdemokratischen Kulturlandesrates Gerald Mader, dem späteren Gründer und Leiter der Friedensuniversität in Stadt Schlaining, allein die Realisierung scheiterte am Einspruch des oberschützener Gemeinderates – mit dem Argument, die oberschützener Gemeindebürger hätten dereinst die Steine für den Bau des Anschlussdenkmals eigenhändig den Hügel hinaufgeschleppt und ließen sich dieses durch eine künstlerische Aktion nicht verunstalten. Im Jahr 1995, Wochen nach dem Attentat von Oberwart, wollte ich das Denkmal erneut verpacken und hatte bereits die Zusage zur Eröffnung durch den damaligen Bundespräsidenten Thomas Klestil. Allein die Realisierung scheiterte dieses Mal am Einspruch der Grundstücksbesitzer, auf deren Wiesen das Denkmal als architektonische Form-und-Inhalt-Ikone thront. Schließlich verzichtete ich 2008 anlässlich des 70. Jahrestages des Anschlusses Österreichs an Hitler-Deutschland auf die erneute Abhängigkeit von Gemeinde oder Grundstückseigentümer und installierte in einer künstlerischen Aktion, angemeldet und von den Behörden gebilligt, siebzig je siebzig Zentimeter hohe, schwarze Pflöcke an der knappe 100 Meter am Denkmal vorbeiführenden Bundesstraße. Diese Installation, „PFLÖCKE/Korridor“ genannt und vom damaligen Landtagspräsidenten Walter Prior eröffnet, wurde bis zum Juni desselben Jahres, also in einem Zeitraum von weniger als drei Monaten, insgesamt vier mal von unbekannt komplett zerstört. Meiner ersten Anzeige am zuständigen Polizeiposten im Kurort Bad Tatzmannsdorf begegnete der Postenkommandant mit den Worten: „Stellen Sie die Pflöcke nur wieder auf, sie werden ja doch wieder ausgerissen.“ – was dann noch weitere drei mal geschah, ehe ich nach dem vierten Versuch auf ein Wiederaufstellen der Pflöcke verzichtete.

Bleiben wir noch ein wenig in Oberschützen. Wie Sie bemerkt haben, habe ich bereits in den ersten Absätzen dieses Vortrags wiederholt das Attentat von Oberwart erwähnt. Es wird bis zu seinem Ende ein Thema bleiben. Zwei Jahre nach der Explosion der Bombe von Oberwart, also im Jahr 1997, wurde im Theater m.b.H. in der Zieglergasse in Wien und im Offenen Haus Oberwart mein Theaterstück „Oberwart. Mon Amour“ geprobt. In diesem Stück kehrt die in Oberwart aufgewachsene, nunmehr bereits 50jährige Margot nach 25jähriger Abwesenheit am 4. Feber 1995 in die Stadt ihrer Kindheit und Jugend zurück, um den sterbenden Vater noch einmal zu sehen. Die Konflikte mit der Mutter lassen sie jedoch noch am selben Tag ein weiteres Mal vor der Stadt, die sie einst durch einen Eklat provoziert hatte, davonlaufen. Wir sehen sie am Oberwarter Bahnhof zur mitternächtlichen Stunde über sich und ihr Verhältnis zu ihrer Vergangenheit räsonieren, nachdem sie den letzten Zug versäumt hat. Dabei kommt es in der Person des mehrmals vorbestraften arbeitslosen Wanz, dargestellt von dem damals der Öffentlichkeit noch wenig bekannten Gregor Seberg, zum Aufeinanderprallen zweier konträrer sozialer und gesellschaftlicher Welten, das seinen Höhepunkt in einem sexuellen Akt auf der Bahnhoftoilette findet. In den kurzen Augenblick vermeintlicher Nähe detoniert die Bombe von Oberwart hinein, die von den beiden Protagonisten als Knallkörper der zu dieser Zeit am Messegelände in Oberwart stattfindenden Lasershow gedeutet wird. Die Trennung der beiden ist dann nichts weiter als der lapidar vollzogene Abschluss einer Begegnung vor dem Hintergrund kleinbürgerlicher Identitätslosigkeit.

Selten genug passiert es, dass das Staatliche Fernsehen österreichweit von einer Uraufführung eines zeitgenössischen Theaterstücks im Burgenland berichtet. Bei „Oberwart. Mon Amour“ war dies allerdings der Fall: Die zur Hauptsendezeit ausgestrahlte „Zeit im Bild“ brachte einen Vorbericht von den Proben in Oberwart. Dem gestaltenden Redakteur gefiel es, akkurat jene Textpassage für den Beitrag auszuwählen, in der Margot über ihre Gymnasialzeit in Oberschützen sagt: „Acht Jahre, Morgen für Morgen, hier an diesem Bahnhof. Unterschützen, Bad Tatzmannsdorf, Oberschützen. In das Nazikaff Oberschützen.“

Das Echo, nicht nur in Oberschützen, aber besonders dort, war bezeichnend. Nun sind diese wenigen Worte einerseits die Aussage einer fiktiven Figur, deren subjektive Empfindung das „Nazikaff“ präsumtiv in den Raum stellt. Andererseits ist das „Nazikaff Oberschützen“ hinter vorgehaltener Hand bis zum heutigen Tag gepflogene Etikettierung eines Biotops, das sich nie eindeutig von seiner markanten Rolle vor, während und nach der NS-Zeit distanzierte. Ich selbst wurde im Gymnasium Oberschützen zwischen 1966 und 1974 in der Hälfte aller Unterrichtsgegenstände von sog. alten Nazis unterrichtet, von denen die NS-Zeit, wenn überhaupt, nur in romantisierenden Fronterzählungen erwähnt wurde. Dass sie alle, vor allem die kleineren und größeren Parteigänger, sehr bald nach dem Krieg wieder unterrichten konnten – so wie die alten Richter wieder richten und die alten Verwaltungsbeamten wieder verwalten konnten -, ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass das Burgenland, traditionelles Abwanderungsgebiet der besser Ausgebildeten, einen eklatanten Mangel an Akademikern aufzuweisen hatte.

Doch kommen wir zurück auf die Reaktionen, die das „Nazikaff Oberschützen“ im Hauptabendprogramm des ORF verursachte. Ich erwähne vor allem eine, die hier stellvertretend für die meisten anderen stehen soll: Da es sich bei dem Beitrag um einen Vorbericht handelte, meldete sich am Vormittag der Premiere eine Abordnung von SPÖ-Gemeinderäten zu einem Gespräch mit mir im Offenen Haus Oberwart an. In eindringlicher Weise versuchte man mir eine öffentliche Entschuldigung bei Oberschützen und seinen GemeindebürgerInnen schmackhaft zu machen. Meine Abbitte würde nicht nur in allen SPÖ-Publikationen veröffentlicht, sondern noch am selben Tag im Schaukasten der SPÖ am Hauptplatz von Oberschützen ausgehängt werden. Ich brauche nicht explizit zu erwähnen, dass ich dieser freundlichen Einladung durchaus nicht nachgekommen bin. Ich habe im Gegenteil eine öffentliche Diskussion in Oberschützen über dessen NS-Vergangenheit vorgeschlagen, doch leider wollte dieser freundlichen Einladung meinerseits durchaus niemand in Oberschützen nachkommen, auch nicht die SPÖ-Gemeinderäte. Damals zumindest nicht. Denn 11 Jahre später, nach der vierfachen Devastierung meiner Installation „PFLÖCKE/Korridor“ durch unbekannt, entschloss man sich immerhin zu einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung im oberschützener Heimathaus, zu der auch ich eingeladen war. Das Anschlussdenkmal in Oberschützen steht freilich heute noch genauso da wie 1945, nachdem der goldene Reichsadler in seinem Inneren von einer russischen Panzerabwehrkanone in Schutt und Staub zerschossen worden war.

Lassen Sie mich nun zu meinen Anfängen als Schriftsteller in der pannonischen Provinz kommen. Heute noch sehe ich Purdis langen Schatten durch die Straßen Oberwarts wanken. Von allen Zigeunern war Purdi der Überzigeuner: Wenn er wankte, wurde der Gehsteig für ihn freigemacht. Die meisten Oberwarter zogen es vor, die Straßenseite zu wechseln. Der große Purdi, mit tatsächlichem Namen Stefan Horvath und selbsterklärter Weltmeister auf seinem Cymbal, hatte sich im Versuch, das KZ aus dem Gedächtnis zu stemmen, erfolgreich in den Suff gerettet. Als Volksschulkind hatte ich eine als abgründig zu bezeichnende Angst vor ihm und seiner kantigen Erscheinung mit spitzer Nase, spitzen Ohren, spitzem Kinn und den satanisch tief liegenden Augen. Wenn mich sein Blick traf, der präzise Röntgenblick des rauschhaften Wissens, traf mich ein unerhörtes Gericht. Es konnte eine Häuser durchsägende Gewalt entwickeln, wenn er seinen Fluch auf die Hitler und die Hitlerinnen in die Welt spuckte. Nicht nur einmal träumte ich in meinen unschuldigen Nächten von diesem Blick, von dieser Stimme, von diesem Ungeheuer. Und so riskierte ich, als damals bereits Fünfzehnjähriger, das bis dahin Unvorstellbare: Bewehrt mit der Gitarre bog ich von der Straße meines Elternhauses in die Gasse ein, in der, gut versteckt, ein kleines Häuschen hinter einigen Bäumen und Büschen stand.

Es war die auf seinem Unterarm eintätowierte Nummer, die mit einem Schlag alles, was ich bis dahin kannte, in Frage stellte. Es war natürlich auch seine wiederholt an mich gerichtete Frage, ob ich Auschwitz kenne. Als ich wiederholt verneinte, antwortete er, nach der immer gleichen, nachdenklichen Pause und mit stets klarer, gefasster, ruhiger Stimme: „Auschwitz, das ist die Hauptstadt von der Welt.“ Das war der Unterricht, den weder Elternhaus noch Gymnasium boten. Ohne es zu wissen, hatte Purdi ein für allemal die unbedarft lauernde Stille meiner Kindheit zerstört und mich zu einem erwachsenen, wie verrückt brennenden Menschen zertrümmert. Einer hatte etwas in mir zerbrochen, um meinen Blick zu weiten.

Diesem meinem Lebenslehrer wollte ich ein Denkmal setzen. Im Herbst nach der Matura verfasste ich das Hörspiel „Purdi Pista sagt, die Cymbal ist tot“, das ich 1975 bei Internationalen Hörspieltagen vortragen durfte. Die Erstproduktion wurde über das ORF-Landesstudio Burgenland noch im Juli desselben Jahres ausgestrahlt. Die Oberwarter Zeitung berichtete, die beiden burgenländischen Parteizeitungen berichteten. Und in manchen Oberwarter Wohnungen gingen die Wogen so hoch, dass sie schließlich zu wochenlangem Telefonterror bei meinen Eltern führten. Den auch an den Roma verübten Massenmord durch die Nazis öffentlich anzusprechen, stellte Mitte der siebziger Jahre noch immer ein Sakrileg dar.

Obwohl er die Erstproduktion meines Hörspiels „Purdy Pista sagt, die Cymbal ist tot“ zu verantworten hatte, musste ich mir seitens des ORF-Kulturchefs im Studio Burgenland vorhalten lassen, dass es völlig müßig sei, sich als junger Schriftsteller mit der Nazi-Vergangenheit zu beschäftigen, da diese Zeit, wie er wörtlich sagte, „nie wiederkommen“ würde. 1995, direkt nach dem Attentat von Oberwart, entschuldigte er sich bei mir telefonisch.

Wenige Jahre später, im Jahr 1980, zeichnete ich für die Attrappe eines Denkmals verantwortlich, das mitten in Oberwart an das KZ-Schicksal der oberwarter Roma erinnern sollte. Bereits in der ersten Nacht wurde es mit weißer Lackfarbe übergossen, natürlich von unbekannt, da die Ermittlungen der oberwarter Gendarmerie keine Ergebnisse zeitigte, obwohl jeder in Oberwart das Lokal kannte, in dem die Täter ihr heldenmütiges Werk befeierten. (Das Video von der Aktion Zigeunerdenkmal und seiner Schändung kann übrigens auf YouTube nachgesehen werden.) U.a. auch durch die Gründung eines folgenden Jugendhauses in Oberwart sollte diese Denkmal-Attrappe ein gewisser Vorbote jener Emanzipierungsbewegung unter den jugendlichen Roma von Oberwart sein, die 1987 zur Gründung des ersten Roma-Vereins in Österreich und 1993 zur Anerkennung der Roma als österreichische Volksgruppe führte.

Die Figur des „Purdi Pista“ beschäftigt mich bis zum heutigen Tag. Im Jahr 2000 schrieb ich einen Monolog mit dem Titel „Adi gusch!“, in dem der bereits tote Stefan Horvath - der nicht zu verwechseln ist mit dem Autor Stefan Horvath, dessen erstes Buch „Ich war nicht in Auschwitz“ ich etwa zum gleichen Zeitpunkt als Herausgeber betreute - von Wirtshaus zu Wirtshaus zieht, um nach den Festen die „Noagerln“ auszutrinken, stellvertretend für all die Reste aus demütigenden Zeiten, die noch nicht entsorgt bzw. aufgearbeitet wurden. Das Stück wurde im Laufe von drei Jahren in zahlreichen Wirtshäusern des Südburgenlandes, aber auch in Wien und schließlich im einstmaligen sog. Führerzimmer im Wiener Volkstheater gespielt.

Am Sonntag, dem 5. Feber 1995, hielt vor meinem Haus in Deutsch Kaltenbrunn, Bezirk Jennersdorf, der silbergraue Citroen des Regisseurs und Schremser-Darstellers in „Kottan ermittelt“, Walter Davy. Es war 11 Uhr vormittags, Walter Davy hatte es in den Nachrichten im Autoradio gehört: In Oberwart hatte eine Rohrbombe vier junge Roma in unmittelbarer Nähe ihrer Siedlung in den Tod gerissen. Davy sagte, noch an die Fahrertüre seines Wagens gelehnt, man könne nur hoffen, dass es sich um einen Unfall und nicht um ein Attentat handle. Eine Hoffnung, der wir Aktivisten des OHO, die wir zu diesem Zeitpunkt bereits in meinem Haus versammelt waren, von Anbeginn an eine Absage erteilten. In diesen Stunden, die natürlich vorrangig von der Betroffenheit der Roma, der völligen Hilflosigkeit der Gemeinde, der Polizeiwillkür beim planmäßigen Filzen der Roma-Häuser, der teilweise wider besseres Wissen ausgegeben Falschmeldungen aus dem Innenministerium und dem Ansturm der Journalistenmeute geprägt waren, machten auch wir, die wir auf mannigfache Weise mit den Roma von Oberwart verbunden waren, unsere eigene Erkundungstour durch unsere Identität als Künstler und Menschen, Burgenländer und Österreicher.

Ursprünglich hätte die Begegnung mit Walter Davy an diesem Tag die erste Regiebesprechung zu meinem Stück „März. Der 24.“ sein sollen. Ich hatte das Stück über den Massenmord an den rund 200 kranken jüdischen Zwangsarbeitern, die in der Nacht des 24. März 1945 im Zuge eines Gefolgschaftsfestes im battyánischen Schloss Rechnitz exekutiert wurden, als Endzeit-Parabel angelegt. Neben dem für das Massaker verantwortlichen örtlichen Gestapo-Chef Franz Podezin und dem gräflichen Ehepaar Batthyány-Thyssen brachte ich zwei fiktive Figuren des Volkssturms auf die Bühne: einen verängstigten älteren Mann namens Pagani und einen fanatisierten Jüngling mit Namen Ziserl, der nach dem Willen des Regisseurs eine Art Vorläufermodell von Jörg Haider darstellen sollte. Ausgerechnet an Letztgenanntem sollten sich im Laufe der Proben der kommenden Wochen die Geister zwischen Mitwirkenden und dem Regisseur scheiden. Walter Davy hatte den pensionierten Direktor des Volkstheaters, Paul Blaha, gebeten, Interviews mit den Obmännern und Obfrauen der im Parlament vertretenen Parteien zur Frage, ob Massaker wie in Rechnitz auch heute passieren könnten bzw. wie diese zu verhindern wären, zu führen. Teile dieser Interviews wollte er, mehr oder weniger als Bekenntnis zur Demokratie und als Absage an totalitäre Tendenzen in unserer Gesellschaft, in den Abspann des Stückes einfließen lassen. Mit dabei war - neben Franz Vranitzy, Erhard Busek, Madeleine Petrovic und Heide Schmidt - eben auch Jörg Haider für die FPÖ. Er, der seine eigene, in jeder Hinsicht unbewiesene Version vom Tod der Roma am Anger in Oberwart rund um vermeintliche Waffengeschäfte, Autoschieber-Deals und Drogen propagierte, schien in dem Interview Kreide gefressen zu haben und stellte sich selbst als großer Demokrat dar. Umso mehr lehnten es die Mitwirkenden an der Inszenierung ab - darunter auch ich - , Jörg Haider in unserem Stück über das Massaker von Rechnitz eine Plattform zu kredenzen. Schließlich wurden in der Absicht, das Stück für sich selbst sprechen zu lassen, auch die Interviews aller anderen Parteiobmänner und -frauen ersatzlos gestrichen.

Zur Premiere am 24. März 1995, dem 50. Jahrestags des Massenmordes von Rechnitz, erschien schließlich eine illustre Schar des damaligen österreichischen Politinventars. Mit dabei war auch Landeshauptmann Karl Stix. Jener Mann, den ich als vormaligen SPÖ-Parteisekretär des Burgenlandes im Jahr 1982 gebeten hatte, mir bei der Organisation einer Demonstration gegen das wiederholte Auftreten von Norbert Burger im Burgenland und die Kandidatur der NDP zum burgenländischen Landtag unter die Arme zu greifen. Stix hatte die Unterstützung durch die SPÖ mit dem Argument abgelehnt, eine Demonstration sei solch ein mächtiges demokratisches Instrument, dass man es keineswegs an zweitrangige Themen verschleudern dürfe. Dennoch kam im Frühherbst 1982 eine Demonstration mit nicht weniger als 5.000 Teilnehmern in Eisenstadt zustande. Ihr Erfolg: Die Kandidatur der NDP konnte aufgrund der dann doch ausbleibenden Unterstützungserklärungen unterbunden werden. Ein weiteres, für mich persönlich weniger angenehmes Ergebnis: Wenige Wochen danach drangen Neonazis in mein Haus im Südburgenland ein und warfen Kanonenschläge genannte, an Dynamitstangen erinnernde Knallkörper, die, bei professionellerer Handhabung, das Haus auch in Brand legen hätten können. Obwohl ausgeforscht und von der Staatspolizei ein Jahr lang beobachtet, wurde den Tätern kein Prozess gemacht. Ein ermittelnder Beamter teilte mir mit, das Verfahren sei auf ministerielle Weisung eingestellt worden, weil es „in Österreich kein Neonazi-Problem“ gebe. Ich muss jedoch betonen, dass ich dieser Behauptung nicht weiter nachgegangen bin – und dass ich das heute für ein gravierendes Versäumnis halte.

Die hier zur Verfügung stehende Zeit erlaubt es mir leider nicht, auf einige weitere meiner Stücke näher einzugehen, die im historischen Konnex von NS-Vergangenheit und Reflexion derselben in der Gegenwart angesiedelt sind. Das Stück „Gott Kabel Der Stuhl und Die Klarheit“ entstand nach meinem ersten Besuch in Auschwitz und Birkenau, wurde 1993 im Theater des Augenblicks in Wien uraufgeführt und blieb, sieht man von einer einzigen Rezension in der „Wiener Zeitung“ ab, ohne Resonanz. Das Theaterstück „Die Briefeschreiberin“ erzählt die Geschichte von fünf Schwestern in einem burgenländischen Dorf, die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches nach sehr unterschiedlichen Auswegen nach dem Zusammenbruch ihrer bisherigen Lebenslügen suchen. Es wurde, laut vagen Informationen meines damaligen Theaterverlages, in italienischer Sprache in der Universitätsstadt Prato uraufgeführt und in Koproduktion von Ö1 und Deutschlandradio als Hörspiel mehrfach gesendet. Eine deutschsprachige Bühnenerstaufführung erlebte das Stück bis heute nicht. In „Die Nackten“, uraufgeführt 1995 im Wiener Theater m.b.H., exakt am Tag des Begräbnisses der durch die Rohrbombe von Oberwart umgekommenen Roma, kehrt ein in Auschwitz umgekommener Zigeuner in die Gegenwart zurück, um eine Gesellschaft, die sich quasi über Nacht mit Millionen von nackten Menschen auf den Straßen konfrontiert sieht, buchstäblich wie auch metaphorisch in den menschlichen Untergrund zu führen. Ein Stück, das angesichts der brüllenden Ratlosigkeit Europas im Umgang mit den neuen Migrationsbewegungen gerade heute von Aktualität wäre. Und schließlich möchte ich auch noch das Libretto zu einer Oper erwähnen, die von meinem langjährigen künstlerischen Weggefährten Wolfgang R. Kubizek komponiert wurde. „Monolog mit einem Schatten. Eine Windoper“ wurde 1996 im Konzerthaus Wien in Koproduktion mit dem Offenen Haus Oberwart uraufgeführt und erzählt die Geschichte zweier in Auschwitz ermordeter Roma, die sich nach ihrem Tod in Skarabäus und Ratte verwandelt haben, um die an einer Gasleitung erhängte Leiche Gottes aufzufressen.

Zuletzt möchte ich aber noch kurz auf ein Werk eingehen, das mich mehrere Jahre beschäftigte und als Lesestück, Hörspiel und in Buchform existiert. „Requiem. Den Verschwiegenen“, uraufgeführt im Jahr 2000, widmet sich der Tatsache, dass bis zum heutigen Tag Bürgermeister und Gemeinderäte von über 30 Gemeinden des Burgenlandes allen Forderungen nach einem sichtbaren Zeichen der Anerkennung für jene, die ihren Widerstand gegen das Naziregime mit dem Leben bezahlen mussten, verschließen. „Requiem. Den Verschwiegenen“ war für mich allerdings nur zum einem Teil als Versuch eines viel zu späten Gedenkens gedacht. Zum anderen Teil wollte ich die Frage stellen, welchen Stellenwert Zivilcourage und Widerstand in einer Zeit besitzen, in der scheinbar alles möglich ist – auch der Rückfall in neue alte, autoritär politische Muster. Für die Realisierung dieses Projektes, das als Lesestück in 12 Kirchen des Burgenlandes gezeigt wurde, fand sich eine erstaunlich breit aufgestellte Riege von Unterstützern und Mitarbeitern: Neben den mitwirkenden Künstlern engagierten sich die Burgenländischen Volkshochschulen, die Burgenländische Forschungsgesellschaft, das Volksbildungswerk für das Burgenland, der Bund sozialdemokratischer Freiheitskämpfer sowie die römisch-katholische und die evangelische Kirche Burgenlandes. Wirkung auf die betroffenen Gemeinden: meines heutigen Wissens nach null – jedenfalls was die Akzeptanz für eine öffentlich ausgestellte Erinnerung an die ermordeten Widerstandskämpfer betrifft.

Ich darf zum Abschluss auf meine zweifach preisgekrönte Website www.peterwagner.at verweisen, auf der sämtliche hier vorgestellten Stücke und Inszenierungen dokumentiert sind. Dort finden sich zu meinen Stücken auch eine Diplomarbeit für die Universität Wien und eine an der Universität Rennes in Frankreich eingereichte Dissertation in französischer Sprache. Einige meiner Stücke sind in der oberwarter edition lex liszt 12 verlegt und können dort auch bezogen werden.

Ich bedanke mich beim heutigen Veranstalter für die Möglichkeit, im Rahmen des Dialogforums Mauthausen ein Terrain zur Vorstellung meiner Arbeit erhalten zu haben. Ich bedanke mich bei Ihnen allen für Ihr aufmerksames Zuhören.