Skip to main content

Was war mit den Gottliebs vis-à-vis?

Von Peter Wagner
Ein Beitrag zur Kunstaktion jewish variations von Paul Mühlbauer und Freunden
Im August 2015

Ich weiß nicht, ob ich von allem Anfang an glücklich mit dem Titel der Mühlbauer´schen Kunstaktion war. Jewish variations schien mir gerade in Bezug auf die Tatsache, dass der als solcher etikettierte und in den Mittelpunkt der künstlerischen Aktion gestellte „Jud am Eck“ alles, nur kein Jude war, letztlich als inhaltlich problematischer Bezugspunkt. Im Nachdenken über meine Skepsis und insbesondere in Anbetracht der nun vorliegenden Ergebnisse dieser Aktion im Rahmen des Judenburger Sommers habe ich meine Ansicht revidiert.

Folgen wir zunächst der Erzählung des Künstlers Paul Mühlbauer, unterstützt und beglaubigt von partiell eingeschobenen Expertisen des Judenburger Stadthistorikers Dr. Michael Georg Schiestl:

Kapitel 1

Der Name Mühlbauer hat in Judenburg Tradition. Der Urgroßvater Paul Mühlbauer stammt aus Deggendorf in Bayern und verdingte sich als Wachebeamter bei Wilhelm II, ehe er 1903 mit seiner Familie nach Judenburg auswanderte und dort in der Kaserngasse ein Uhrengeschäft gründete.

Vis-à-vis – sozusagen von Angesicht zu Angesicht – lebt die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert aus Böhmen zugewanderte jüdische Familie Gottlieb, der es gelungen ist, in den bürgerlichen Handelsstand aufzusteigen. Der alte Wilhelm Gottlieb ist nicht nur ein Mann von kaufmännischem Geschick, sondern verfügt darüber hinaus auch noch über eine ausgeprägt soziale und gesellschaftsdienlich pragmatische Ader: So scheint er nicht nur als Mitbegründer des Deutschen Turnvereins, der Freiwilligen Feuerwehr, der Rettungsabteilung der Stadt Judenburg und der Sektion Judenburg des Österreichischen Touristenklubs auf, sondern - gemeinsam mit seiner Frau – auch als Stifter eines Betrags von 200 Kronen für die Pfründner des städtischen Armenhauses, der alljährlich vom Armenrat der Stadt an ausgewählte Bedürftige zu verteilen ist.

Am 13. und 14. Mai 1918 – der Erste Weltkrieg liegt in seinen vorletzten Zügen – kommt es in der Judenburger Kaserne zu einer Meuterei. Innerhalb eines slowenischen Regiments bricht sich der Frust über einen verlorenen Krieg, über Hunger und menschliche wie soziale Ausweglosigkeit Bahn und führt zu Gewaltaktionen einer völlig enthemmten Soldateska. Sie zieht plündernd und mordend u.a. auch durch die etwa fünfhundert Meter lange Kaserngasse, in der, schräg gegenüber von Geschäft und Wohnhaus der Gottliebs, die Familie Mühlbauer im Stockwerk über ihrem Uhrengeschäft lebt. Die Mühlbauers selbst können sich zwar hinter eine mächtige Eisentür mit ebenso mächtigem Vorhangschloss retten, doch wird das Geschäft stark in Mitleidenschaft gezogen. Durch die aufgeschlitzten Eisenrouleaus gelangen die plündernden Soldaten ins Innere des Geschäfts und devastieren es gründlich. Der Einschuss im großen Messingpendel einer Uhr, die als einziges Inventar zurückbleibt, zeugt von der Gewaltbereitschaft der Soldaten, die alles zusammenraffen, was sie mitnehmen können, Uhren, Schmuck und Perlen. 20 Tote hinterlässt die Wut der Meuternden in der Stadt. Das strenge Kriegsrecht verurteilt sechs Rädelsführer zum Tod durch Erschießen, das Urteil wird westlich des Stadtfriedhofes vollstreckt.

Die Familie Mühlbauer hat die Plünderungen zwar unversehrt überlebt, dennoch aber ein folgenschweres Trauma davongetragen. Paradoxerweise hatte das Ereignis für den Zusammenhalt der Familie auch etwas durchaus Identitätsstiftendes, denn immer wieder wird davon erzählt, immer wieder wird erwähnt, dass der Urgroßvater quasi über Nacht weiße Haare bekommen habe. „Und selbst auf mich“, sagt der Künstler Paul Mühlbauer heute, „hat die Erzählung von damals noch seine Auswirkungen, ich sperre auch immer alles wie ein Narrischer ab.“

Allerdings zeitigt dieses oft wiederholte Erzählen über jene traumatischen Stunden auch noch durchaus andere Folgen, die uns auf den letztlich wesentlich unbequemeren Frageweg durch das Mühlbauer´scher Nachdenken lotsen. Denn hier erst beginnt für den Künstler gefühlsmäßig die eigentliche Geschichte:

Kapitel 2

Der Urgroßvater, von heute auf morgen weiß geworden, irrt nach der Devastierung seines Geschäfts herum, wie es der Bildhauer Paul Mühlbauer 97 Jahre später ausdrückt, und versucht die Wunden zu schließen, materiell wie psychisch. In dieser zunächst aussichtslosen Situation - und das ist der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der Geschichte - gibt es unerwartet Hilfe: nämlich von der anderen Seite der Gasse. Wilhelm Gottlieb und sein Sohn Adolf bieten spontan und unpragmatisch finanzielle Unterstützung an, ohne dabei auf einen konkreten Rückerstattungstermin des geborgten Geldes zu pochen. Damit können die ruinierten Rouleaus erneuert und das Geschäft wieder aufgebaut werden.

Überhaupt ist man einander freundschaftlich verbunden. So gehen die Familien Mühlbauer und Gottlieb beinahe täglich zum gemeinsamen Kaffee. Man versteht sich gut und jeder steht, wie früher üblich, zwischendurch auch vor seinem Geschäft und treibt Konversation mit dem Nachbarn vis-à-vis.

Ab den Zwanzigerjahren schlägt die Stimmung zunehmend gegen die Juden um. Das muss Wilhelm Gottlieb insofern zur Kenntnis nehmen, als er nach und nach aus sämtlichen seiner Gründungen mehr oder weniger sanft entfernt wird. 1933 stirbt der alte Gottlieb, sein Geschäft und auch alle seine noch verbliebenen sozialen Agenden werden von seinem Sohn Adolf übernommen und weitergeführt. Adolf, der etwa 10 Jahre älter ist als des Bildhauers Großeltern Paul und Josefine, ist Soldat im 1. Weltkrieg gewesen und betreibt mit seiner Frau u.a. das von seinen Eltern finanziell mitbetreute Armenhaus weiter.

1938 erfolgt der Anschluss mit all den bekannten Begleiterscheinungen der sog. Arisierung jüdischen Besitzes. Auch die Familie Gottlieb ist davon betroffen. Und so geschieht es, dass das Vis-à-vis der Familie Mühlbauer, die jüdische Familie Gottlieb, mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen verschwunden und ihr Geschäft, Warenlager und Haus in der Kaserngasse innerhalb kürzester Zeit neuen Besitzern überschrieben sind. In einer Publikation des Museums Judenburg heißt es: „1938 wurde das Geschäft Gottlieb abgewickelt, wie es in der Diktion der Nazis hieß. D.h. das Warenlager des Konfektions- und Textilgeschäfts wurde an den judenburger Kaufmann Lorenz Schmidt, das Möbelwarenlager an den judenburger Tischler Max Oberzaucher verkauft. Die Liegenschaft Kaserngasse 5 erwarben je zur Hälfte Lorenz Schmidt und Max Oberzaucher. Adolf Gottlieb (eines von sieben Kindern) hatte freilich nie ein Geld dafür bekommen. Die Kaufsummen für die Warenlager und das Haus wurden auf das Konto der Vermögensverwaltungsstelle Graz bzw. auf ein Sperrkonto der Länderbank Wien überwiesen, auf die Adolf Gottlieb keinen Zugriff hatte.“

Gegen Ende der Siebzigerjahre, also mehr als etwa sechzig Jahre später, ist die Plünderung durch die wildgewordene Soldateska und das Hilfsangebot der Juden vis-à-vis sowie deren plötzliches Verschwinden im Jahr 1938 noch immer eine Erzählung im Kreise der Familie Mühlbauer. Der spätere Künstler Paul ist zu diesem Zeitpunkt etwas 15 oder 16 Jahre alt und richtet, so unverhohlen und unverblümt, wie man es nur in diesem Alter tun kann, die Frage an seine Großeltern, was mit der hilfsbereiten Familie Gottlieb vis-à-vis nach deren plötzlichem Verschwinden denn nun tatsächlich geschehen sei. Trotz Insistierens des Pubertierenden geben sich die Großeltern ahnungslos. Man kann doch diese Familie, meint Paul jr., mit der man jahrelang gemeinsam Kaffee getrunken hat, nicht so völlig aus den Augen verloren haben. Die Großeltern, die den Vorwurf, der in die Fragen des jungen Paul verpackt ist, sehr wohl heraushören, geben sich unnachgiebig: Man habe nichts mehr vor ihnen gehört, man habe nichts mehr von ihnen gewusst, man habe auch kein Wissen über ihr Eigentum bzw. ihre Liegenschaften und ihr Geschäft gehabt, möglicherweise seien die Gottliebs auf einem Gesundheitsurlaub gewesen.

Später wird der Künstler erfahren, dass es in Judenburg einen in einer Lokalzeitung veröffentlichten Aufruf der Nazis gegeben habe, wonach aufgrund des starken Anstiegs von Plünderungen jüdischen Eigentums alle Arten von Raub und Diebstahl eingestellt werden müssten, da es sich bei arisierten Wertgegenständen um nationalsozialistisches Eigentum handle. Umso unwahrschein-licher musste es sein, dass die Großeltern keine Ahnung davon gehabt hätten, was im einstmals jüdischen Geschäft auf der Gasse gegenüber, also quasi vor ihren Augen vorstatten gegangen war. Aber da war der gefühlte Vertrauensbruch meinerseits, wie er es heute nennt, vermutlich ohnehin schon längst nicht nur gefühlt, sondern Tatsache.

Im Jänner 2015 stattet Paul Mühlbauer, mittlerweile 52 Jahre alt, der Enkeltochter Adolf Gottliebs, Evelyn Skolet, und deren Mann einen Besuch in ihrer Wohnung in Wien ab. Die Adresse hat er von dem hier schon zitierten Judenburger Historiker Dr. Michael Georg Schiestl, jedoch keine Telefonnummer. Also läutet er an der Wohnungsglocke in der Strudelhofstiegengasse und wird auch sofort freundlich eingelassen. „Ich ging zu ihr und wir sind die Dinge durchgegangen“, sagt er, „Arisierungsbescheid, Fotos, Todesanzeigen usw.“ Hier nun führt die Erzählung in die nächste Etappe, die rund 10 Jahre umfasst und doch nur rudimentär geschildert werden kann, da erstens die Protagonisten nicht mehr am Leben sind und zweitens das Quellenangebot dünn ist.

Kapitel 3

Laut Evelyn Skolet schaffen es ihre Großeltern Adolf und Hedwig Gottlieb nach ihrer Vertreibung aus Judenburg, sich bei der chinesischen Botschaft in Wien entweder mit noch vorhandenem eigenen oder aber geborgten Geld ein Visum zu kaufen. Der Weg von Europa aus nach China muss ein abenteuerlicher gewesen sein und hat ungefähr ein Jahr beansprucht. Wie sie es überhaupt nach Südost-Asien schaffen, ist nicht bekannt, jedenfalls kämpfen sie sich durch den Dschungel von Burma nach China und leben bis zu Kriegsende in Shanghai im Exil. Möglicherweise hat es auch noch weitere Geschwister oder Verwandte von Adolf dorthin verschlagen, zumal Evelyn Skolet behauptet, es gebe dort mehr Verwandtschaft als in Europa. Der Rest der Familie hat ebenfalls die Zeichen der Zeit erkannt, ist rechtzeitig emigriert und praktisch über den gesamten Erdball verstreut. Das letzte der Kinder von Adolf und Hedwig Gottlieb, Erich Gottlieb, stirbt Neunzigjährig 2011 in den USA.

Paul Mühlbauer hat zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Evelyn Skolet und ihrem aus Rumänien gebürtigen Mann seine Kunstaktion jewish variations schon mehr oder weniger klar konzipiert, auch die Verwendung des sog. „Jud am Eck“ als die zentrale Metapher für Schicksal und Vertreibung der Juden aus Judenburg. Immer wieder trifft er sich mit dem Leiter des Stadtmuseums Judenburg Dr. Schiestl, der ihm umgehend mit historischem Material aushilft. Und tatsächlich ist ja die Geschichte der Familie Gottlieb mit dem Exil in Shanghai alles anderes als zu Ende.

Kapitel 4

Denn im Jahr 1948 kehren Adolf und Hedwig Gottlieb nach Judenburg zurück. Nach einem ebenso langwierigen wie demütigenden Restitutionsverfahren, wie Michael Schiestl feststellt, wird der Familie Gottlieb das Haus in der Kaserngasse, wie es in der nüchternen Amtssprache heißt, zurückgestellt.

Man stelle sich nun also vor: Da haben sie vor dem Weltkrieg Jahrzehnte einander gegenüber gelebt und einander täglich gesehen, erlebt, ja miteinander im Gasthaus Gruber am Eck Kaffee getrunken und um jeden Temperaturgrad in den Augen des anderen in dieser oder jener Weise gewusst. Dann hat der Arisierungsterror der Nazis den einen ins Exil gezwungen; der andere hat sein Uhrengeschäft, das dereinst nach einem Vandalenakt durch die jüdischen Nachbarn gerettet worden ist, unbeschadet weitergeführt; der eine hat sich und seine Familie nach einem abenteuerlichen Fluchtweg durch den Dschungel von Burma nach Shanghai gerettet, wobei man, wenn die eigene Phantasie noch nicht verkümmert ist, sich unschwer ausmalen kann, wie es einem Vertriebenen im Exil auf der anderen Seite des Erdballs wohl geht - und das gerade auch in Anbetracht der Tatsache, dass er nach Kriegsende den möglicherweise genauso beschwerlichen Weg noch einmal auf sich nimmt, um in die alte Heimat zurückzukehren; der andere hat den Krieg zwar nicht als Soldat erlebt, war aber, da kriegsuntauglich aufgrund eines Venenproblems, im Meldeamt der Kaserne Judenburg fix ins System der Nazis integriert. Als dann in den letzten anderthalb Jahren auch Judenburg von den Bombardements der Alliierten betroffen war, wurden die Kinder der Familie Mühlbauer zur Uroma nach Murau quasi evakuiert.

Nun, 1948, leben sie plötzlich wieder vis-à-vis. Zehn Jahre einer unglaublichen Katastrophe, von der sie in der nur denkbar unterschiedlichsten Weise betroffen waren - der eine unbestreitbar als Opfer, der andere jedenfalls als Mitläufer eines Unrechtsregimes -, liegen zwischen ihnen. Haben sie sich etwas zu erzählen, zumal sie, jeder für sich, eine ganze Menge zu erzählen hätten?

„Niemand in meiner Familie hat diese 100 Jahre einer Geschichte je durchleuchtet“, sagt Paul Mühlbauer, der heutige, und dabei blinkt nicht nur ein Anflug von Scham durch seine gefestigte Erscheinung, sondern auch der naive Trotz des Unverbesserlichen, der das Gegebene nicht als gegeben, das Unabänderliche nicht als Unabänderlich, das (Ver)Schweigen nicht als Gebot hinnehmen will. Er will vernommen haben, dass die beiden Familien, die zurückgekehrte und die weiterhin vorhandene, den Brauch des Kaffeetrinkens im Gasthaus Gruber am Eck durchaus wieder aufgenommen hätten. Beim Zusammensitzen bei Kaffee und Kuchen hat man sich doch erfahrungsgemäß immer eine Menge zu erzählen, oder? Paul will es eher bezweifeln, er ist der Meinung, dass Adolf Gottlieb und seine Familie bei ihrer Rückkehr nach Judenburg nichts als Schweigen vorgefunden hätten. Und wenn man noch einmal bei Michael Schiestl Anleihe nimmt, so scheint dieser Zweifel mehr als begründet zu sein. Er schreibt:

„Die Geschichte der Judenburger Juden ist eine Geschichte des Verschweigens, des Verdrängens, der Verfälschung. Dass das Vergessen, Verdrängen und Verfälschen als höchste Form der Erinnerung bis heute die lokale Traditionspflege und Gedenkkultur bestimmt, dafür trägt paradoxerweise die lokale Historiographie eine nicht unmaßgebliche Verantwortung. Über das Schicksal der Judenburger Kaufmannsfamilie Gottlieb, der es im Jahr 1938 im letzten Augenblick gelungen war, sich vor dem Zugriff der Nationalsozialisten ins Ausland zu retten, wusste die Lokalgeschichtsschreibung noch in den 1980er Jahren – zu einer Zeit also, da man Genaueres wissen konnte – zu berichten, dass deren Angehörige 1938 nach Wien und von dort nach Shanghai übersiedelten. Die Judenburger Juden, so lautet die bis heute weithin gebräuchliche Sprachregelung, seien nach dem so genannten Anschluss weggezogen, ausgewandert, emigriert. Manch einer habe sein Glück in anderen Ländern gesucht, manch einer sei in den Kriegswirren umgekommen.“

Mit welchen gegen-, ja wechselseitigen Betretenheiten also hatten die beiden Familien, die jüdischen Gottliebs, die arischen Mühlbauers nach der ihnen je unterschiedlich zugestoßenen Katastrophe zu kämpfen? Welche Kasteiungen lagen ihrem Versuch zugrunde, sich erneut Normalität in ihrem täglichen Leben, im Aufbau eines alles in Anspruch nehmenden Wirtschafts- und Wohlstandwunders, in Beruf, Werdegang, Familie und zwischenmenschlichen Beziehungen zu Nachbarn, Freunden und der ganzen Stadt zu schaffen? Wie peinvoll muss das Schweigen für die einen gewesen sein, wie angstbesetzt für die anderen?

Und was alles könnte uns der „Jud am Eck“, der das alles von seiner erhobenen Position am Hauptplatz Judenburgs gesehen und erlebt hat, heute erzählen, wäre er nur imstande, seinen Mund aufzumachen und uns ein Stück mehr an Tiefensicht für ein so oder so unsägliches Kapitel provinzieller Menschheitsgeschichte zu vermitteln?

Er kann es nicht, er will es nicht, er tut es nicht. Und doch kommt er nicht ungeschoren davon, dieser behutete Zwerg mit Bart und finsterem Blick an seiner überhöhten Aussichtswarte über dem gemeinen, schweißtriefenden, frierenden, fried- und freudlos durcheinanderlaufenden Volk: Der Fluchtweg eines Künstlers in die künstlerische Abkürzung zwingt ihn zu einer mehr oder weniger leidvollen, leidvoll martialischen Metamorphose seines sonst nicht veräußerten, veräußerbaren Wissens.

Kapitel 5

„Ich als Künstler kann es mir erlauben“, sagt Paul Mühlbauer, „diese Geschichte, die Geschichte meiner Familie mit der Geschichte der Familie Gottlieb, in meiner subjektiven Weise erneut zusammenzuführen bzw. –fügen.“ Er sagt, er könne als Künstler insofern Licht in das durch seine Familie Verdrängte bringen, als er mit dem Thema der Judenverfolgung und -vertreibung arbeite, ja spiele, wodurch sich möglicherweise unbekannte Blickpunkte auftun. Und er sagt, er könne genauso Dankbarkeit für die Hilfe der anderen, der jüdischen Familie nachliefern, deren so offen-kundiges Fehlen innerhalb seiner Familie ihm allzu lange ein wirkliches Problem gewe-sen sei. Und er könne auch einem Ort wie Judenburg über die spezifische Wahrheit der Kunst ein Stück tatsächlicher Wahrheit liefern – sofern man bereit sei, sie zu akzeptieren.

Stichwort Zusammenführen. Stichwort Licht. Stichwort unbekannte Blickpunkte. Der Fotograf und einer der engsten künstlerischen Vertrauten von Paul Mühlbauer, Christian Ringbauer, fokussiert das Augenmerk auf genau diese drei Aspekte einer letztlich nur mehr im Nachreichen, im nachträglichen, symbolhaften Vollzug möglichen Beziehung – jener Beziehung, deren möglicher Vertiefung die Familien Mühlbauer und Gottlieb nach der Rückkehr der jüdischen Familie mit hoher Wahrscheinlichkeit so völlig ausgewichen sind, dass sie sich bis auf Oberflächlichkeiten und Platitüden gar nichts zu sagen hatten, zu sagen wussten - vielleicht um sich im Ausweichen vor den unbequemen Wahrheiten überhaupt noch irgendeine Illusion von Beziehung zu einander aufrechtzuerhalten. Ringbauer, der von sich behauptet, er habe das Bedürfnis, Licht in die Sache zu bringen, um über die Brücke des Lichts eine Verbindung zwischen den beiden Familien herzustellen, hat mit seinem Fotoapparat viel Zeit in der Kaserngasse verbracht. Er stellte zunächst fest, dass das Haus der Mühlbauers die meiste Zeit des Tages im Schatten liegt, d.h. kein Licht in der Weise in Anspruch nehmen kann wie die Häuser auf der anderen Seite der Straße. Entsprechend bedeutsam ist für seinen Blickpunkt eine Lampe, die wie ein so absichtlich wie absichtslos verbliebenes letztes Relikt im Eingangsbereich des Hauses hängt, als müsste sie letzte Botschafterin einer möglichen Erhellung in einem sonst unbeleuchteten Kapitel sein. Ringbauer greift das Symbol auf, bricht es durch seinen eigenen Konterfei, dem Sinnbild der Erinnerung, auch der Unaussprechlichkeit einer Erinnerung, und stellt ihm den Einfall tatsächlichen Lichts gegenüber, wie es sich Bahn vom Hauptplatz her in die Kaserngasse bricht. Durch das auf beiden Seiten des geteilten Bildes gleich bleibende Motiv des Konterfeis hat er zwischen beiden Elementen die Brücke hergestellt und tatsächlich eine Art von Zusammenführung zwischen dem unbekannten Blickpunkt und dem Licht vollzogen, wobei er keine Zuweisungen in einem urteilenden Sinne trifft: Er überhöht den Konflikt in die Abstraktion seines Selbst, seines eigenen Empfindens, seiner eigenen mentalen Leistung, um letztlich nicht nur Licht in den Konflikt, sondern auch in die Erkenntnis seiner selbst, in die Sicht seiner Innenschau zu bringen.

Kapitel 6

Für sein eigenes Kunstwerk ist Paul Mühlbauer nicht, wie Ringbauer, in der Kaserngasse fündig geworden, sondern im Südteil des Judenburger Hauptplatzes. Dort prangt, kaum zu übersehen in etwa drei Metern Höhe an einem Hauseck unter einem Renaissance-Erker, das Halbrelief einer alles in allem doch seltsamen Figur, und das bereits seit einem halben Jahrtausend. Dabei dürfte im Zeitalter ihres Entstehens die reale menschliche Vorlage dazu alles andere als seltsam erschienen sein, vielleicht als eine übertrieben ehrgeizige, aber dem sonstigen Bildnis der Zeit entsprechende Person, auch wenn man heute nicht mehr allzu viel von ihr weiß. Auf einer Tafel wird das Haus, an dem das Relief prangt, als mittelalterliches Gerichtsgebäude, eine sog. Schranne, bezeichnet. Anfang des 16. Jahrhundert befand es sich im Besitz des wohlhabenden Judenburger Bürgers, Bürgermeisters und Stadtrichters Ruprecht Ambring, der sich da mit hoher Wahrscheinlichkeit und mit der für Judenburg typischen spitzen Haube ein Denkmal für die Ewigkeit errichten hat lassen. Weiters ist von ihm nur bekannt, dass er auch Fleischhauer gewesen sein soll und sich den Adelstitel erkauft habe. Der grimmige Gesichtsausdruck, die in die Hüften gestemmten Arme, die mit schweren Ringen bestückten Finger dürften Teil der damals üblichen Selbstdarstellung eines Mannes gewesen sein, der sich mit dynamischem Unternehmergeist und finanzieller Verve im Kreise der Bürgerschaft bewegte und dort sich und seine lokale Machtposition behauptete. Auch heute noch werden wir in der seriösen Presse kaum einen Finanzmagnaten oder –manager beim Blick in eine Kamera lächeln sehen, sofern er sich nicht in der Nähe von Politikern, dem Society-Mob bzw. der Seitenblicke-Kameras befindet.

Über die Gründe, warum dieser offenbar nicht nur von Unternehmergeist, sondern auch von einer guten Portion Eitelkeit geprägte Mann im Laufe der folgenden Jahrhunderte in der Volksfama zum „Jud am Eck“ mutierte, lässt sich nur spekulieren. Vielleicht ist es ja gerade der grimmig wirkende Blick in der Verbindung mit einer großen, geschwungenen Nase, einem wallenden Bart und der spitzen Behutung, der ihn im Laufe der Jahrhunderte zu einem Klischee werden ließ, das ursprünglich nicht das geringste mit ihm zu tun hatte. Zwar waren die der Stadt namengebenden Juden aus dem mercatum Judenpurch bereits 1496 vertrieben worden, doch verfügt das Volk in vielerlei Hinsicht seit je her über ein längeres Gedächtnis, als man glaubt. Gerade durch die im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert grassierende Inquisition waren die Juden ein Thema und womöglich auch die Erinnerung an sie, auch wenn diese durch die stete Propaganda sowohl von Reformation als auch Gegenreformation eine immer trübere und bedenklichere, mit all den unschönen und immer hässlicher werdenden Vorurteilen behaftete Färbung erhielt. Gut möglich, dass die Figur am Eck, diese selbsterhobene Gestalt, die demonstrativ ihre Wohlsituiertheit, ihre grimmig eingeforderte bürgerliche Macht hoch über den Köpfen der Vorbeigehenden demonstrierte, mit all den Attributen versehen wurde, die man dem damals schon hässlichen und stets hässlicher werdenden Juden unterstellte: Geiz, Wucher und rituelle, jedenfalls christenfeindliche, ja satanische Abgehobenheit. Und wer hätte denn tatsächlich noch nachgefragt, ob es sich bei dem Dargestellten tatsächlich um einen Juden handelte, als er schon war, was er nie gewesen war, schließlich aber doch geworden ist: der „Jud am Eck“?

Eine jewish variation: Fantasie des Paranoiden in uns, der geistigen Beengtheit, des Abgründigen, des schließlich Unheilverkündenden in fortlaufenden Variationen ...

Einen Beitrag zur bildhaften Tiefenpsychologie dieser ethnischen Wandlung liefert die Trilogie „mehr und mehr zeichnet es sich ab“ von Wolfgang Horwath, der von Paul Mühlbauer als weiterer bildnerischer Beitraggeber zu den jewish variations eingeladen wurde. Der Bildhauer hat dem Maler ein Wachsmodell des von ihm abgenommenen Halbreliefs überlassen. Horwath taucht Leinwand in Epoxidharz und legt sie über das Profil der Figur, um sie anschließend hart werden zu lassen und danach mit Farbe und Pinsel figurativ nachzuzeichnen bzw. zu bearbeiten. Die erste Leinwand legt er locker über Gesicht und Brustkorb des Wachsmodells, sodass sich das natürliche Gewicht von Leinwand und Harz sanft über die Erscheinung legt. Anschließend arbeitet er das Gesicht der Figur aus dem Relief heraus. Dieses Stadium nennt er „es war“. Die zweite Leinwand wird bereits mit einiger Spannung und mit erhöhtem Druck über den Wachsabdruck gelegt. Nach der Versteifung von Leinwand und Harz lässt er das ursprüngliche Gesicht weitgehend in der Brüchigkeit der Stofflandschaft verschwinden, nur noch der Hut, ein ungenauer Umriss des Gesichtes sowie zwei dominante Falten, die vom spitzen Kinn, aus dem der Bart verschwunden ist, ausgehen, geben Zeugnis von der Person darunter, die jetzt im Sinne einer fortschreitenden Entpersönlichung nur noch ein Schemen ist. Dieser Metamorphose gibt er den Titel „es wird“ im Sinne von es ist im Entstehen. In der dritten Etappe schafft er schließlich das wenig optimistische „es ist“, und es ist nichts anderes als die Fratze, die nach der Wegnahme der ursprünglichen Persönlichkeit dem Wesen verbleibt, das nicht mehr es selbst sein kann, weil es von einer anderen, ihm von außen aufgezwungenen Konnotation anders gedacht, anders vorgesehen, anders geprägt ist: Der hässliche, unleidliche, angstmachende – und letztlich sogar skelettöse, in seiner schreienden Einsamkeit zugrunde gehende Jude!

Auch dies im passiven, erleidenden Sinne eine jewish variation ...

Wo Horwath mit dieser Trilogie eine Entwicklung von Wahrnehmung und auch das bewusste Obwalten manipulativer Eingriffe in sein Entstehen andeutet – Genesis eines Klischees durch Wandlung eines bildnerischen Topos in einen sozial bzw. hier ethnischen Topos - , geht der Bildhauer Paul Mühlbauer mit seiner künstlerischen Flucht in das Eigentliche einen anderen Weg. Er vervielfacht die Figur als solche und gibt ihr, in der je eigenen gestalterischen Ausformung der insgesamt sechs Positive sowie auch schon in der Auswahl der unterschiedlichen Materialien - drei aus Beton, zwei aus Bronze, eine aus Aluminium – eine Art von Individualität zurück. Er weist damit unverkennbar darauf hin, dass im Falle des Pogroms und der systematischen Vernichtung eines ganzen Volkes niemals nur das Volk selbst, sondern in seiner massenhafter Verdichtung das Individuum als solches und allererstes Leidtragender und Leidtragende, Entrechteter und Entrechtete, Verhöhnter und Verhöhnte, Gefolterter und Gefolterte, Entwürdigter und Entwürdigte, Geschändeter und Geschändete, Vergewaltigter und Vergewaltigte, Vertriebener und Vertriebene, Ausgelöschter und Ausgelöschte ist. Die Tragödie eines Volkes ist genauso und zuallererst die Tragödie seiner Individuen, seiner Einzelteile, durch deren Ganzes und verbindlich Gemeinsames erst ein Volk zu einem Volk wird.

Mühlbauer wählt denn auch eine andere Methode in seiner künstlerischen Methodik als Wolfgang Horwath, wobei für beide das kathartische Moment das Entscheidende ist, wie dies aller Flucht in die Kunst eigen ist, egal in welcher graduellen und manchmal sogar wohlverborgenen Abstufung: Er tut den von ihm geschaffenen Individuen bewusst Gewalt an und führt uns die äußeren Merkmale dieser Gewalt, man möchte sagen: plakativ vor Augen. Wobei das Attribut in diesem Fall nicht greift, schon gar nicht in der üblichen Verwendung als abwertendes Urteil: Gewalt ist die Folge dessen, was Wolfgang Horwath in seiner Exegese uns vermittelt hat; das Klischee, einer Figur einmal übergestülpt, jener Verlust bzw. der bewusste Raub der Persönlichkeit an einem zur Figur verkommenen Menschen, der zuletzt nur noch als verdinglichtes Extrakt existiert, trägt substanziell den Freibrief für Terror und Vernichtung, das vermeintlich legitimierte Verhetzen, Vertreiben und Eliminieren des Anderen und der Anderen sowohl in ihrer Individualität als auch in ihrer Vielzahl in sich.

Insofern erscheinen beide Ansätze, sowohl jener von Wolfgang Horwath als auch jener von Paul Mühlbauer, als symbiotische Zugänge zu ein und demselben Phänomen, wenn auch in inhaltlich unterschiedlichen Stadien und ästhetischen Ausformungen.

Um abschließend auf meinen ursprünglich Vorbehalt bzgl. der Betitelung der Kunstaktion rund um den „Jud am Eck“ zurückzukommen: Eindeutig unterlegen beide Künstler die Aktion mit aufklärendem Engagement, das ja, wie wir wissen, niemals nur nach außen zu wirken beabsichtigt, sondern stets die Entwicklung im Inneren des Agierens zur tieferen Seinserfahrung benötigt, um überhaupt etwas nach außen transportieren zu können. Paul Mühlbauer ist kein Jude, Wolfgang Horwath ist kein Jude, Christian Ringbauer ist kein Jude, der Autor dieser Zeilen ist kein Jude. Und der „Jud am Eck“ war nie ein Jude!

Und doch sind gerade wir Nicht-Juden gefordert, uns den jewish variations zu stellen, durch unsere Arbeit, durch unser Denken, durch unser Agieren. Warum? Weil es jederzeit sein kann - und diese Möglichkeit ist niemals, ich betone: niemals mehr auszuschließen, seitdem Auschwitz unser Menschenbild neu geprägt hat -, dass manche unter uns, vielleicht viele, vielleicht sehr viele, vielleicht am Ende alle in der letzten Konsequenz menschlicher Hybris zu einem „Jud am Eck“ werden. Gerade in den Tagen der aufgestellten weißen Zelte, der Bilderflut eines dem verzagten, allein gelassenen Geist nicht mehr fassbaren Elends, der täglich in die Haushalte übertragenen Gewalt, der Hasspostings und der spürbar fallenden Hemmschwellen sind die Anklänge an die neuen wie auch alten Formen der Stigmatisierung nicht mehr zu überhören – auch nicht bei uns in Europa.

So dramatisch und desaströs die Entwicklungen auch immer vonstatten gehen: Im Großen und Ganzen wird es nur ein weiterer Teilaspekt, eine uns jetzt noch nicht bekannte Facette dessen sein, was dem Volk der Juden seit zweitausend Jahren widerfährt: die niemals enden wollende jewish variation, der Akt nicht enden wollender Barbarei an den Sündenböcken des jeweiligen Zeitgeistes.