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Das Märchen der Musik – Urtext

Märchen von Peter Wagner
Textzyklus 1986

Eveline Rabold: Das Märchen der Musik – Burgenländischer Landessonderpreis für Künstlerische Grafik (2003) >>

1

Es war einmal eine Birke.
Der Wind blies in ihre Krone, so sehr,
dass das Rascheln der Blätter eine Heuschrecke weckte.
Diese war von ihrer langen Reise müde geworden
und auf einem Grashalm eingeschlafen.
Jetzt erst bemerkte sie, dass der Grashalm
während ihres Schlafes abgebrannt war.
Auch ihre Füße waren verkohlt.
Der Wind aber blies ihren Fluch
in die Blätter der Birke
und ihr Rascheln legte sich wie ein Teppich
über den verbrannten Acker,
unter dem dieser neue Blüten
und neue Gräser auszutreiben begann ...

2

Es war einmal ein Riese.
Er stapfte gewaltigen Schrittes
aus einem Traum heraus und kam in den Wald.
Sein betrunkenes Lachen verschreckte die Rehe,
seine Stiefel zerbrachen die Kiefern und Tannen,
zertraten das wuchernde Geäst,
verwüsteten die Nester des Phönix.
Wo er ging, hinterließ er eine Spur im Wald.
Man nannte sie den „Kreuzzug des Riesen“.
Wer sich die Mühe macht,
ihr zu folgen,
der kommt direkt ans Meer.
Dort war der betrunkene Riese
zielstrebig hinein gewatet in der Hoffnung,
in einen neuen Traum zu geraten.
Erst das Wasser des Meeres
ließ sein betrunkenes Lachen für immer verstummen ...

3

Es war einmal eine Träne,
die fiel auf den Rücken einer Hand.
Dort zerrann sie.
Die Hand aber griff nach einer Blume,
köpfte sie
und zerfiel zu Staub ...

4

Es war einmal eine Maschine,
die hatte eine Idee.
Sie bat einen ganzen Ameisenhaufen zum Tanz.
Die Maschine und die Ameisen tanzten
sechs Tage und sechs Nächte.
Als die Maschine am siebten Tag ruhen wollte,
um sich auszurasten,
merkte sie, dass sie nicht mehr ruhen konnte.
Die Ameisen hatten Besitz ergriffen von ihr
und es war das Gesetz der Ameisen,
auch am siebten Tage zu tanzen.
So kam die Maschine nimmer zur Ruh.
Täglich träumte sie vom siebten Tag,
doch sobald sie angefangen hatte zu träumen,
riss ein neuer Schwarm von Ameisen
sie in einen neuen Tanz hinein.
Wer wirklich lauschen kann,
hört heute noch die Schreie der Maschine
aus dem ganzen großen Ameisenhaufen heraus ...

5

Es waren einmal zwei Elstern,
die liebten einander im Fluge.
„Der klebrige Staub auf unseren Flügeln“,
sagten sie, „ist nur eine Täuschung.
In Wirklichkeit sind wir frei.
So frei wie zwei Elstern,
die einander im Fluge lieben.“
Als sich der klebrige Staub auch auf ihre Augen legte,
schlossen sie diese und sagten fortan,
dass ihre wahre Freiheit die Nacht sei.
Sie vergaßen, einander im Fluge zu lieben.
Und sprachen nur noch von der Nacht.
„Der Tag ist eine Lüge“,
sagten sie,
und flohen erschrocken vor jedem,
der etwas anderes behauptete ...

6

Es war einmal eine Schere,
die machte schnipp-schnapp.
Nachdem sie allen Bäumen die Wipfel abgeschnitten hatte,
begann sie einen großen Trauergesang
und starb aus Gram über das Unglück der Welt ...

7

Es war einmal eine Spinne,
die wob für ihren Geliebten ein Netz.
Die tönenden Schwingungen der Fäden
sollten ihn anlocken und betören.
Als sich der Geliebter im Netz verfangen hatte,
wurde er taub von den vielen zärtlichen Schwingungen.
Und er hörte auch nicht mehr die Liebesworte der Spinne.
Da fraß sie ihn auf.
Mit einem Mal waren auch
die tönenden Schwingungen verschwunden.
Seitdem schlagen schwere Betonhämmer
auf das Netz ein,
reißen riesige Löcher in das Geflecht,
und die Spinne hat alle Beine voll zu tun,
sie immer wieder zu flicken,
während die Betonhämmer bereits neue Löcher
in das Gewebe schlagen.
Das aber haben ihr die Betonhämmer verheißen:
Wenn du tausend Jahre flickst,
wird dein Geliebter wiederkehren
und die tönenden Schwingungen zurückbringen!
Freudig sehen wir die Spinne
an ihrem unendlichen Netz weben und spinnen und flicken,
denn sie weiß nun,
daß ihr Geliebter nicht verloren ist.
Und seht nur,
langsam werden die Betonhämmer brüchig ...

8

Es war einmal ein Presslufthammer,
der brach aus aus dem Zirkus,
in dem Jahrzehnte lang sein Gastspiel gegeben hatte.
Er kam an eine Straße, auf der Tag und Nacht
große schwarze Autos mit Anhängern fuhren.
Vergeblich versuchte er, ein Auto an zu halten.
Er kletterte die Böschung zur Straße hinunter,
schleppte sich durch endlose Weizenfelder,
grüßte die im Wind wackelnden Maisfahnen
und kam an einen Bach.
Er legte sich ans Ufer und schlief ein.
Zwei kranke Forellen weckten ihn:
„Hol uns aus dem Bach heraus“,
zirpten sie den Presslufthammer verzweifelt an,
„das Wasser des Baches ist krank,
darum sind auch wir krank!“
Der Presslufthammer strengte sich gewaltig an,
doch sosehr er sich auch bemühte,
es gelang ihm nicht, den kranken Forellen zu helfen.
Sobald er sie aus dem Wasser geholt hatte,
schrien sie auf: „Gib uns schnell zurück ins Wasser,
ohne Wasser können wir nicht leben!“
So ließ er sie wieder zurück gleiten ins Wasser,
von dem sie krank waren.
Dann aber schrien sie wieder:
„Nimm uns aus dem Wasser, es macht uns krank!“
Und weil er ihnen nicht helfen konnte,
starben die beiden Forellen.
Der Bach aber brachte immer neue Forellen herbei,
und der Presslufthammer war Tag und Nacht damit beschäftigt,
die kranken Forellen aus dem Bach zu fischen
und sie wieder hinein gleiten zu lassen.
Eines Tages soll er plötzlich
von der Erdoberfläche verschwunden gewesen sein.
Wenn Ihr ganz lange euren Kopf in den Bach steckt,
hört ihn von Ferne leise stottern.
Stört ihn nicht!
Er erzählt den Forellen zum Trost für ihre Krankheit
die Geschichte seines Leben.
Die damit begonnen hatte,
dass er eines Tages aus dem Zirkus ausgebrochen war ...

9

Es waren einmal vier kleine Kätzchen.
Die schnurrten für ihr Leben gern.
Vor ihren Nasen liefen die Mäuse auf und ab.
Sie wollten spielen mit den Kätzchen.
Diese ließen sich jedoch nicht stören.
„Mäuse fangen ist keine Kunst“, sagten sie,
„aber sein Dasein einer Sache zu verschreiben und zu weihen,
das ist die Höhere Freiheit des Lebens.
Wir leben für die Höchste aller Künste,
für das Schnurren.“
Da die Kätzchen keine Zeit für andere Dinge
verschwenden wollten,
magerten sie bald ab bis auf das Skelett
und starben an Unterernährung.
Die Mäuse brachten sie zu Grabe und
veranstalteten ein großes Gelage
zu Ehren der vier Kätzchen.
Der Mäusekönig aber ließ sich von seinem Mausevolk
einen Tempel erbauen:
War er es doch gewesen,
der die vier Kätzchen
von der Höheren Freiheit des Lebens überzeugt hatte:
von der Kunst des Schnurrens ...

10

Es war einmal ein Vulkan.
Der sprach von sich:
„Ich bin alt,
mein Lebenswerk ist vollbracht.
Alles, was ich geben kann,
ist nur noch eine Nachlese.“
Als er ausbrach,
erzitterte die Welt
und fürchtete sich sehr ...

11

Es war einmal ein Märchen,
das fand kein Ende.
Da begann es, den langen Faden seiner Geschichte aufzurollen,
bis der so entstandene Ball so groß war wie die Erde.
Auf diesen Ball lud sie alle ein,
die ihr auf ihrer Reise begegnet waren:
die Birke, die Elstern, die Ameisen, die Maschine,
den Riesen, die Schere, die Träne, den Vulkan,
den Presslufthammer, die vier Kätzchen,
die kranken Forellen und den Mäusekönig.
Auf ihrer riesigen Fadenkugel schwebten sie durch das All,
entfernten sich immer weiter von der Erde,
bis diese winzig klein war.
Und das war gut so.
Denn das Märchen hatte eine kleine Stubenfliege
auf der Erde zurückgelassen,
vielleicht auch nur aus Unachtsamkeit vergessen.
Diese flog hin und her und setzte sich irgendwann
erschöpft auf einen Knopf.
Daraufhin explodierte die Erde
und verwandelte sich in einen Haufen aus Stein.
Doch davon bemerkten das Märchen und seine Reisenden nichts mehr.
Sie waren schon zu weit weg ...

12

Es war einmal ein Märchen.
Das hieß Musik ...