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71 oder DER FLUCH
DER PRIMZAHL


EXEGESE EINES STÜCKS

Theaterstück über die 71 Toten, die am 27. August 2015 in einem Kühl-LKW an einer Pannenbucht bei Parndorf entdeckt wurden.

Nach Texten von 21 burgenländischen AutorInnen und Interviews mit 15 GesprächspartnerInnen rund um die Aufarbeitung der Katastrophe sowie Bildmotiven von Dutzenden KünstlerInnen des eu-art-network-Workshops

Szenische Stückeinrichtung und Inszenierung: Peter Wagner. / Musik: Ferry Janoska.
DarstellerInnen: Tania Golden, Gernot Piff, Petra Staduan, Georg Leskovich, Bella Ban (Bühnenmitwirkung und Kostüm)
Technische Ausführung in allen Bereichen: Georg Müllner / Regieassistenz: Isa Nemeth / 
Produktionsleitung und Ausführung Bühne: Alfred Masal


Eine Produktion der Theaterinitiative Burgenland in Koproduktion mit dem Offenen Haus Oberwart und der Gemeinde Parndorf
Uraufführung: 4. Jänner 2017 / 19:30 Uhr / Volksschule Parndorf
Folgeaufführungen im ORF-Eisenstadt, Oberwart (OHO) und Großwarasdorf (KUGA)

Gesamtaufzeichnung des Stücks >>

Trailer zum Theaterstück >>
Directors Trailer >>  
71 oder Der Fluch der Primzahl - Stück >>
atem; aus; atmen - Performance Eröffnung Forum Alpbach 2017 >>

 VOM UMKREISEN EINES LKW MIT TOTER FRACHT

von Peter Wagner

Essay anlässlich der Uraufführung der Performance „atem; aus; atmen – Paraphrase auf 71 oder Der Fluch der Primzahl“
bei der Eröffnung des Europäischen Forum Alpbach am 27. August 2017


Am 7. April des letzten Jahres (2016, Anm.) saßen der Geschäftsführer des Offenen Hauses Oberwart und Produktionsleiter der Theaterinitiative Burgenland, mein Cheftechniker und ich mit dem Obmann des Theatersommers Parndorf, Johann Maszl, in Parndorf / Pandrof an einem Wirtshaustisch. Wir hatten die Vorbereitungen für ein Gastspiel meiner Produktion Der Fluss – Die Lieder der Lebenden, die Lieder der Toten – Theater-Essay in sechs gesungenen Sprachen im folgenden August zu besprechen und waren davor den Kirchenplatz, auf dem das orphische Spektakel über die Bühne gehen sollte, abgeschritten. Nun, nach Erörterung der wichtigsten organisatorischen Schritte meinte der Burgenlandkroate Johann Maszl, u.a. auch Leiter des örtlichen Tamburizza-Orchesters, er verstehe nicht, warum die Kunst noch nichts über die 71 Toten gemacht habe

Zwei Minuten später skizzierte ich den Anwesenden die Bühne: Zentrales Objekt sollte ein Quader in exakt den Ausmaßen jenes Kühlkoffers sein, in dem am 27. August 2015 an einer Pannenbucht der Autobahn bei Parndorfer/Pandrof 71 Flüchtlinge erstickt aufgefunden worden waren: 6 mal 2,15 mal 2,50 Meter. Das Geschehen auf der Bühne sollte sich rund um diesen Quader ereignen, die Szenerie hinter der Bühne mittels einer Kamera nach vorne übertragen werden.

Zwei Wochen nach dem Gespräch am Wirtshaustisch waren nicht weniger als 21 AutorInnen meiner Bitte, einen Text zur Tragödie von Parndorf zu verfassen, gefolgt. Meine einzige Vorgabe hatte darin bestanden, nicht über den Inhalt des Lkws zu schreiben, sondern über das Drumherum. Keine Frage also, dass in vielen der Texte nicht nur die Tragödie selbst, sondern alles, was ihr in den Wochen und Monaten danach folgte, thematisiert wurde: die vermeintliche Hilfsbereitschaft in Anbetracht eines von niemandem in diesem Ausmaß erwarteten Flüchtlingsstroms und ihr Umschlagen in z.T. aggressiv ausgelebte Hilflosigkeit im Herzen Europas, ihre Erweiterung zum Spiel mit der politischen Rendite und der unverhohlene Zugriff der Demagogie. Der Titel der Umkreisung, die sich anhand der eingelangten Texte zu einem Stück Theater verzopfen sollte, fühlte sich zunächst noch provisorisch an, wurde aber im Zuge der laufenden Entwicklung zu einem Selbstläufer: „71 oder Der Fluch der Primzahl“.

Im Text, den die damals 26jährige Theodora Bauer aus Eisenstadt abgeliefert hatte, heißt es: 

ich war in alpbach zu dieser zeit. die berge schön und blau, die sonne hell, das forum alpbach eben. ...  ein kühltransporter. ein kühltransporter hörte ich und dachte zuerst, er hat ihn eingeschaltet. nein. die isolierschicht hat die hitze von drinnen abgeschirmt gegen die hitze von draußen, von innen und außen hitze, überall hitze und nirgendwo luft. aber ich sagte schon: keinen gedanken kann man fertig denken. jeder faden verläuft in einer ecke dieses kastenwagens.

Noch einmal zwei Tage später und also etwa acht Monate nach jenem Ereignis, das nicht nur die Einwohner Parndorfs, aber besonders sie wie ein Keulenschlag getroffen hatte, versuchte ich, dem Parndorfer Bürgermeister im Beisein von Johann Maszl und dem Amtsleiter Otto Lippert das Angebot einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Geschehenen zu erklären. Darüber hinaus hatte ich mir in den Kopf gesetzt, jene Gemeinde, die dank des Outlet Centers zu den eher nicht ärmeren Gemeinden Österreichs zählt, als Partner des sich abzeichnenden Bühnenwerks zu gewinnen. Wolfgang Kovacs, einst Landessekretär der burgenländischen KPÖ und nun als Bürgermeister durch die Bürgerliste LiPa mit einer absoluten Mehrheit im Gemeinderat ausgestattet, zeigte sich zunächst reserviert. Der Stammtisch, an dem das Versenken der Flüchtlingsboote im Mittelmeer Thema sei, sei ohnehin nicht zu überzeugen, und ob man mit einem Theaterstück im anderen Teil der Bevölkerung etwas bewirken könne, sei eher dahingestellt. Ich argumentierte, dass es vom kollektiven Selbstbewusstsein einer Gemeinde zeuge, wenn sie die Katastrophe nicht nur als Schicksalsschlag betrachte, sondern vor allem auch als Chance: Der Welt etwas von ihren gefährdeten und gefährlichen, vorder-, hinter- und abgründigen Seiten zu erzählen; und dass dieses Selbstbewusstsein letztlich auch von der Öffentlichkeit in ganz Österreich, ja möglicherweise darüber hinaus honoriert würde. 

Jetzt endlich beginnt im Amtsraum des Bürgermeisters eines nicht ganz durchschnittlichen, aber auch nicht ganz untypischen burgenländischen Dorfes das Erzählen. Ihn habe die Nachricht auf einem Nachrichtenportal am Smartphone in Griechenland ereilt, sagt Wolfgang Kovacs. Zwei Tage später und zurück aus dem Urlaub hätten zunächst die technokratischen Ungewissheiten dominiert, wie mit solch einem Unglück respektive ihrem Ausmaß überhaupt umzugehen sei. So habe er zunächst befürchtet, dass die Gemeinde die Kosten für die Bestattung der 71 Menschen berappen werde müssen, was sich in der Folge als Fehleinschätzung erwiesen habe. Der bewegendste Moment für ihn und den Amtsleiter sei aber gewesen, als jenen Menschen, die bis dahin nur Leichen gewesen waren, nach ihrer Identifizierung Gesichter gegeben worden seien, nämlich durch die auf einem Poster aufgeklebten Fotos aus den vorgefundenen Dokumenten der Toten.

Doch noch immer scheint die Skepsis einer Theaterproduktion gegenüber, einem möglichen immateriellen Gedenkstein für die Toten im Schlepper-LKW zu überwiegen. Erst als ich die Absicht bekunde, die Produktion auch ohne Beteiligung der Gemeinde Parndorf auf die Beine zu stellen, schlägt die zögerliche Haltung des Bürgermeisters um. Nur wenige Tage später hat er sich die prinzipielle Kooperation Parndorfs an dem Projekt vom Gemeinderat absichern lassen, wenige Wochen danach auch die finanzielle Mitbeteiligung. Nachträglich hatte ich den Eindruck, dass Kovacs durchaus erleichtert war, endlich auch von Seite der Gemeinde Parndorf einen diskursiven Beitrag an der Aufarbeitung jenes Ereignisses leisten zu können, das den Namen seines Ortes europaweit in die Schlagzeilen gebracht hatte. 

Fast alle, an die in der Folge die Bitte um ein Interview zur Einarbeitung in die Inszenierung erging, rangen mehr oder weniger bereitwillig vor laufender Kamera nach einer Sprache zur Erfassung des bis dahin für sie nicht Gekannten, nicht Gesehenen, ja nicht Gerochenen. Und kaum einer konnte dabei verheimlichen, dass – obwohl konditioniert durch jahrlange Erfahrung mit den unschönen Seiten unseres täglichen Lebens – die Begegnung mit diesem Lkw, in dessen Kühlkoffer 71 Menschen buchstäblich zerronnen waren, ihn an die Grenze seiner psychischen Belastbarkeit gebracht hatte. Sie, die dazu da sind, nach dem großen Schlachtfest den Hof wieder auszuräumen, aufzuwaschen und sauber zu machen, immer darauf bedacht, dabei keine der vorhandenen Spuren zu verwischen, betonten zwar gebetsmühlenartig, dass auch das Auf- und Abarbeiten solcher Tragödien Teil ihres Berufes sei. Dennoch war das stete Räuspern, der noch immer ungläubige Blick, ja ein gelegentliches Zucken in den Mundwinkeln bei der Schilderung des im Grunde nicht Erzählbaren kaum zu überhören und zu übersehen. 

„Dadurch, dass ich in Hinblick auf die Gefahrenzone vor dem LKW zu stehen kam, habe ich schon beim langsamen Vorbeifahren gesehen, dass die Kollegen mit Mundschutz den LKW geöffnet hatten“, erzählt Wolfgang Kreminger, stellvertretender Dienstführender des Roten Kreuzes in Neusiedl am See. „Ich dachte mir zunächst nichts weiter und bin rechts an den Pannenstreifen rangefahren, ausgestiegen und habe den Geruch wahrgenommen. Je näher ich an den Lkw herangekommen bin, umso ärger hat es nach verwesendem Fleisch gerochen, und als ich dann auf der Höhe des Lkws war, habe ich gesehen, dass es aus ihm heraustropft. Dann habe ich noch ganz gut das Bild von meinen Kollegen in blankem Entsetzen vor Augen. Und da hatte ich dann bereits das ungute Gefühl, dass da tatsächlich etwas Gröberes passiert ist.“ Nachdem man mehrmals in den Laderaum hineingerufen hat, wird die Ladebordwand wieder geschlossen. Zunächst sollen die Toten in der Parndorfer Autobahnmeisterei der ASFINAG aus dem Lkw geborgen werden. Man hat dort bereits Abdeckplanen aus dem nächstgelegenen Baumarkt besorgt, doch erweist sich das Verwesungsstadium der Leichen als derart fortgeschritten, dass die tatsächliche Entladung des Lkws schließlich nur noch in den Kühlhallen der Veterinärmedizin an der Nickelsdorfer Grenze möglich ist. Der dort anwesende leitende Staatsanwalt von Eisenstadt Johann Fuchs: „Ein Opfer nach dem anderen wurde geborgen, bald waren es 20 und man hatte das Gefühl, der LKW sei immer noch voll. Uns war sehr bald klar, dass es ein Vielfaches von 20 sein würde. Es war eigentlich ... unglaublich.“ 

„Die Bilder, die wir da erfahren mussten, waren fürchterlich“, erzählt Werner Burghart, Leiter der Tatortgruppe im Landeskriminalamt und einer derjenigen, die ab etwa 20 Uhr direkt im Lkw die Arbeit dieser Nacht taten. „Auf dieser Ladefläche lagen, ineinander verkeilt, fast verschmolzen, total verunstaltete Menschen. Man konnte nie abschätzen, wie viele Personen sich tatsächlich in diesem Lkw befinden. Wir haben überlegt, wie wir die Bergung durchführen und gleichzeitig die ersten Spurensicherungsmaßnahmen gewährleisten. ... Wir haben uns mit dem Leiter der Gerichtsmedizin Wien, der ebenfalls anwesend war, entschlossen, dass wir die Leute natürlich einzeln bergen. Zunächst wurden die ersten Tatortfotos von den Liegestellen gemacht. Dann haben wir die Leichen raustransportiert und in Säcken verwahrt. Das Schrecklichste aus meiner Sicht war dieser penetrante, bestialische Gestank.“

Der Leiter des Kundenservice in der Bestattung Wien, Peter Holeczek, erklärt die Logistik bei der Überführung der Leichen in die Gerichtsmedizin Wien: „Man kann nicht 71 Tote gleichzeitig in die Gerichtsmedizin überstellen, das ist von der dortigen Kapazität her ein Ding der Unmöglichkeit. Daher hat man die Überstellung hierher auf den Wiener Zentralfriedhof vorgenommen. Dann hat man einen Teil in die Gerichtsmedizin überstellt. Wenn dort die Arbeit abgeschlossen war, hat man die Verstorbenen wieder auf den Zentralfriedhof zurücküberstellt und die nächste Gruppe in die Gerichtsmedizin gebracht usw., bis letztlich die Untersuchung aller 71 Opfer gerichtlich abgeschlossen war.“

Gerhard Zapfl, den roten Bürgermeister von Nickelsdorf, beschäftigte naturgemäß etwas anderes: der heranrollende, dann als Flüchtlingswelle bezeichnete Massenexodus syrischer, afghanischer, pakistanischer Menschen, wie er in den Tagen und Wochen nach dem Ereignis auch über Österreich und im besonderen über seine Gemeinde wie ein Naturereignis hinwegfegte. Es sei zu dieser Zeit schlecht kommuniziert worden, sagt er, er sei permanent damit beschäftigt gewesen, die Nickelsdorfer Bevölkerung auf einem gewissen Wissenstand zu halten, um den sozialen Frieden zu bewahren. Diesen Wissensstand habe er sich selbst zusammenstoppeln müssen, und zwar vorranging durch Kontakte zu Bürgermeisterkollegen in Ungarn, die ihm mitgeteilt hätten: „Pass auf, Gerhard, da kommt etwas! Ich wusste also manchmal mehr als die Polizei.“ Und dann habe er von einem Tag auf den anderen plötzlich 15.000 Leute mitten im Ort gehabt. „Die waren hier, hier! Die Züge wurden eingestellt, weil man gesagt hat, es sei zu gefährlich. Die Menschen sind ja auch auf den Gleisen gegangen - und auf der Autobahn sind sie teilweise gewandert. Sie hatten allerdings die Hoffnung, dass sie mit dem Zug weiterkommen, darum haben sie alle auf dem Bahnhof gewartet. Nur war kein Zug da, worauf sie sich zu Fuß auf der Bundesstraße auf nach Wien gemacht haben. Teilweise haben sie sich aber auch im Ort niedergelassen. Die Hauptstraße, die Seitenstraßen – das war alles voll mit Menschen. Ich habe nur gewusst, dass ich jetzt handeln muss, und habe versucht, den Bundeskanzler zu erreichen. Die Sekretärin hat mir allerdings mitgeteilt, der Bundeskanzler sei für mich nicht zu sprechen.“

Aber da gibt es nicht nur jene, die innerhalb ihrer begrenzten politischen Möglichkeiten und ungeachtet ihres tatsächlichen Geschicks unverhältnismäßig große Verantwortung für die klimatische Balance in ihren Gemeinden tragen, sondern auch die anderen, die sich ohne Umschweife ein Stück moralischen Imperativs verordnen – und dafür sorgen, dass die WCs in den improvisierten Lagerstätten für die Flüchtlinge geputzt sind (wie etwa Johann Maszl) oder Spenden eingetrieben werden, mit denen sich postwendend das Wesentliche erledigen lässt: „So habe ich zum Beispiel auch in meiner Firma angerufen und eine Spende war überhaupt kein Thema“, sagt Elke Boschner, freiwillige Helferin in diesen denkwürdigen Tagen, als Hunderte Flüchtlinge vorübergehend genau dort lagerten, wo Tage davor die Leichen von 71 Toten wegen ihres unerträglichen Verwesungsgestanks nicht entladen werden konnten, in der Parndorfer ASFINAG-Halle. „Das Rote Kreuz hat leere Suppen gebracht, und es war uns wichtig, dass wir Nudeln reinkochen, damit die Leute ein bisschen etwas im Magen haben. Es hat halt einige Dinge nicht gegeben, wie etwa Obst oder Babynahrung. Um diese Dinge haben wir uns gekümmert. Am Morgen, am Abend und in der Nacht war ich in Bereitschaft für den Fall, dass ein Anruf kommt und neue Busse eintreffen.“

Und dann natürlich die anderen der anderen. Bürgermeister Kovacs mit jenem Realismus, wie er eher für den Kommunal- als den Spitzenpolitiker kennzeichnend ist: „Parndorf ist da durchaus kein leuchtendes Vorbild gewesen. Es hat bei uns die gleiche Stimmung wie überall gegeben, die einen sagten: Ja, man muss diesen Menschen helfen, und die anderen sagten: Bitte macht die Grenzen zu, lasst diese Leute nicht herein!“

Karin Ivancsics, eine der 21 AutorInnen und im benachbarten Deutsch-Jahrndorf zu Hause, unternimmt einen der fiktiven, qualitativ sehr unterschiedlichen Versuche zur Konkretisierung jener Mischung aus Ignoranz und Angst, wie sie in Anbetracht der immer noch weiter wachsenden Zahl der an den Dörfern vorbeiziehenden Fremdlinge vorherrschte: Ich meine, natürlich tun sie mir leid, ich kann jedoch nichts daran ändern. Niemand von uns kann das, kannst du? Na siehst du. Man soll uns in Ruhe lassen, wir haben genug. Dass im Fernsehen ständig davon die Rede ist, geht mir auf die Nerven, unentwegt das gleiche, das einzige Thema, tagein tagaus: Wohin mit ihnen und wer nimmt wie viele? 

Nur einer verweigerte das Interview zuletzt: der damalige Landespolizeidirektor des Burgenlandes und im Frühjahr 2016 als Verteidigungsminister inthronisierte Hans Peter Doskozil. Nachdem er mich bei einem ersten informellen Termin in seinem Ministerium warten hatte lassen und ich das Haus ohne ein Gespräch nach drei Stunden verlassen hatte, kam es zu einem Sechsaugengespräch in einem Lokal in Oberwart. Der Minister zeigte mir auf seinem Handy jenes Foto vom geöffneten LKW, das die Kronenzeitung schon wenige Stunden nach dem Auffinden seines schrecklichen Inhalts veröffentlichte – und von dem man bis heute nicht weiß, wer es in Umlauf gebracht hatte. Doskozil - mit dem mich die Freundschaft zu dem 2015 verstorbenen stellvertretenden News-Chefredakteur Kurt Kuch verbindet, ohne dass wir uns wissentlich jemals begegnet wären – schien insgeheim zu befürchten, es könnte im geplanten Theaterstück die Wahrnehmungsdiskrepanz zwischen dem Polizeidirektor, wie er sich in jenen August- und Septembertagen 2015 medientauglich als kompetent und umgänglich inszenieren konnte, und dem Minister als Hardliner in Flüchtlingsfragen thematisiert werden (Orginalzitat Doskozil in jenem Oberwarter Lokal: „Wir wissen ja, wie du Theaterstücke inszenierst.“ – Heute frage ich mich, ob er jemals eine Inszenierung von mir gesehen hat.). Dennoch wurde ein Interviewtermin für den 26. Oktober im Offenen Haus Oberwart vereinbart. Nach einem zugegeben nicht sonderlich diplomatischen Posting, in dem ich den Landeshauptmann des Burgenlandes zum Rücktritt aufforderte und das nicht nur lokalen Medien eine Schlagzeile wert war, ließ der Minister das Interview aus angeblichen Loyalitätsgründen dem Landeshauptmann gegenüber wieder absagen.

Das schadete dem Ergebnis durchaus nicht. Lieferten doch vor allem die Gesichter all jener Unbekannten, die im Hintergrund das tatsächliche Handwerk des Aufräumens tun, den eigentlichen Mehrwert für die erweiterte Einsicht in eine Tragödie: das penible Durchleuchten und Suchen, das Auswerten von Fingerabdrücken, DNA-Analysen, Selfies und Telefonkontakten der bei den Opfern gefundenen Handys, das Wegräumen und Aufwaschen, das Ausfliegen und Begraben, das Abhaken und Aktenzuschlagen – oftmals um den persönlichen „Mehrwert“ schlafloser Nächte. 

Derweil die AutorInnen und Autoren den Lkw mit seiner unfassbaren Fracht noch immer umkreisten. Und manch eine/r direkt in ihn hineinstach, ohne deshalb seine eingeforderte Umkreisung aus dem Auge zu verlieren. Aus Petra Ganglbauers Text Habe ich meinen Namen verloren, diesen Rest. Sprache.:

Stimme 3: Und also schließe ich die Augen.
Chor: Ins Dunkel verschoben, wir Frauen, wir Männer, wir Kinder!
Aus dem Off: Über ihren Köpfen das rüttelnde Dach des Transporters - auf ihnen der
Silberblick der Gesellschaft: Mit jeder Etappe spüren sie das Siegel, das
die Grenze ihrem strahlenden, engsten Raum eingeprägt hat.
Stimme1, Stimme 2, Stimme 3: Bis wir ausatmen, bis sich alles auflöst und Schwall wird von Blut.
Aus dem Off: Im Borderland zwischen den Aufenthaltsräumen der gegangenen Seelen. Der Guide steuert weiter auf meterhohen Wellen oder
driftet, kentert oder schiebt sie namenlos über die grüne Grenze:
Kein Willkommenspersonal, nur Weltverkettungen vergehen sich an den Resten von Menschsein.
Chor: Wem gehört das Land?
Aus dem Off: NO GO!


Die Proben an dem zum Stück geformten Wechselspiel zwischen fiktionalen Texten und dem dokumentarischen Arm der Interviews ab Mitte November, zuerst in einer VHS in Wien, dann im Offenen Haus Oberwart, zuletzt in Parndorf, sind zunächst von einer natürlichen Ehrfurcht vor dem Ereignis getragen. Bald jedoch manövriert sich der Ernst des Themas durch die Körperlichkeit der Darstellung genauso wie durch die spürbare Lust an der Arbeit und ihrer inszenatorischen Ausformung in eine gewisse Paradoxie. Die DarstellerInnen Tania Golden, Petra Staduan, Gernot Piff und Werner Wultsch (nach der Premiere Georg Leskowich) stellen sich einem Thema, das sie durchaus auch persönlich trifft: Tania Golden beispielsweise hat jüdische Wurzeln und verfolgt die gesellschaftliche Stimmungslage mit besonderem Interesse; zudem befinden wir uns in der Schlussphase eines reichlich grotesken, von den Mitwirkenden mehrheitlich als Damoklesschwert empfundenen Präsidentschaftswahlkampfes. Andererseits ist das Theater der Ort, der Antworten expressis verbis auf einmal gestellte Fragen eher ablehnt, nicht aber jene, die sich aus der Transformation durch das Spiel an sich ergeben. Und das Spiel ist, letztlich, weltwärts gewandt und die latente Verhöhnung des Todes. Umso eindrücklicher bitte ich auch den Komponisten und Musiker Ferry Janoska - als gebürtig slowakischer Rom selbst das Kind der Flucht aus einem totalitären System - keine Trauermusik, sondern Lebensmusik zu schreiben. Das Verständnis dafür kann nicht erklärt, es muss erarbeitet und erlebbar gemacht werden: Das Theater verhandelt den Tod – und generiert den Hymnus des Lebens, aus welch tragischen Umständen er auch immer seine Artikulation bezieht. Zwar will die fehlende zeitliche Distanz zu dem Ereignis in Parndorf kaum so etwas wie einen Hymnus zulassen, doch sträubt sich von allem Anfang an etwas gegen das Requiem, will sich eine Kraft gegen die Depression stemmen und der Einsicht Rechnung tragen, dass alle diese erstickten Menschen in ihrem unsäglichen Todeskäfig in der Hoffnung auf ein befreites Leben ins Leben, und in nichts sonst als dieses aufgebrochen sind.  

Dennoch hängt von der ersten bis zur letzten Minute der Proben das Omen des Erstickens über der Arbeit. Bella Ban, die bildende Künstlerin und versteckte Performerin, genießt die Freiheit, sich auf der Bühne ihre Figur selbst zu erfinden. Auch sie, die sich dort zunächst als Todesengel imaginiert hatte, wendet sich dem Lebensprinzip zu, intuitiv und ohne jede dramaturgische Absprache. Und doch versagt der Atem: Zwei mal wird sie nächtens per Notarzt ins Krankenhaus eingeliefert und an den Sauerstoff gehängt. Bis zur letzten Vorstellung Ende Jänner bleibt die Sorge, ob sie durchhalten wird. Sie wird – und hat doch womöglich einen Preis dafür bezahlt, den zu berappen ich ihr als Regisseur besser verbieten hätte sollen. Wenn, ja wenn sie selbst damit einverstanden gewesen wäre. Sie war es nicht. 

Auch Monate später lässt sie es sich nicht nehmen, in den Plexiglaswürfen zu steigen, den ich für die Performance „atem; aus; atmen – Paraphrase auf 71 oder Der Fluch der Primzahl“, mit der das heurige Europäische Forum Alpbach am 27. August eröffnet wird, bauen habe lassen. Seine Maße sind 72 mal 72 mal 72 Zentimeter und fassen jenes Volumen an Sauerstoff, das jedem einzelnen der 71 Menschen ab Beginn der Fahrt im zentralungarischen Kecskemét zur Verfügung gestanden hat. Laut Berechnung einer Ärztin kann man damit etwa 22 Minuten überleben. Bella Ban hat 35 Minuten in dem sich immer weiter beschlagenden Würfel durchgehalten, von drei Kameras gefilmt – hatte jedoch, anders als die Opfer im Lkw, die Möglichkeit, den Deckel des Würfels jederzeit von sich aus zu öffnen. 

Die Prophezeiung – sie schwang noch aus der Amtsstube des Bürgermeisters bei unserer ersten Begegnung acht Monate davor nach -, es würde sich niemand in Parndorf für ein Theaterstück über die 71 Toten interessieren, weil jede/r noch zu sehr unter Schock stehe und das Thema eher zur Seite schieben werde, erfüllte sich jedenfalls nicht. Zwar rechnete die Produktion mit dem Schlimmsten, als es am Tag vor der Premiere noch kaum 30 Reservierungen geben hatte, doch war die annähernd 250 Sitzplätze fassende Aula in der Parndorfer Volksschule am 4. Jänner 2017 zur Uraufführung von „71 oder Der Fluch der Primzahl“ ausverkauft. 

Eine Journalistin sollte in ihrer Nachbesprechung noch einen Aspekt hinzufügen: „Nur das offizielle Burgenland glänzte durch Abwesenheit. Landeshauptmann Hans Niessl konnte wegen einer ,Terminkollision´ nicht kommen, sein Stellvertreter Johann Tschürtz befand sich auf Urlaub. Regina Petrik, Landessprecherin der Grünen, und ÖVP-Klubobmann Rudolf Strommer waren bei der Premiere mit dabei. Dass politische Verantwortungsträger ob der Schwere des Themas ,lieber nach Mörbisch gehen, kann man ihnen fast nicht vorwerfen´, meinte der Regisseur im KURIER-Gespräch.“

Als sich im August 2016 eine ORF-Reporterin anlässlich des ersten Jahrestages der Tragödie nach den Beweggründen für das Projekt „71 oder Der Fluch der Primzahl“ erkundigte, antwortete ich, es sei mir in diesem Fall ein kathartischer Moment wichtig, ein (Wieder)Erleben des Schreckens, um der Möglichkeit einer gewissen Entlastung, ja Reinigung Raum zu schaffen. Als die Kamera abgeschaltet war, meinte sie: „Na, da wünsche ich aber viel Erfolg!“

Sämtliche Interviews und literarischen Texte in Originallänge in Siegmund Kleinl, Peter Wagner (Hg.): 
71 oder Der Fluch der Primzahl
Edition Marlit / 2017 / 224 Seiten / € 33.- / Buchbestellung >>

Die Kurzversion >> des Essays in Der Standard vom 26. August 2017