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Der Fluss – Die Lieder der Lebenden, die Lieder der Toten

Ein orphischer Theater-Essay in 6 gesungenen Sprachen
von Peter Wagner
Musik und Arrangement: Ferry Janoska
Uraufführung Offenes Haus Oberwart 2013

Offizielle Website "Der Fluss" >>
Trailer "Der Fluss" >>

Inszenierung >>

Einleitende Zusammenfassung

Der Fluss ist Leitmotiv des „orphischen Theater-Essays in sechs gesungenen Sprachen“. Einerseits wird damit auf den griechischen Totenfluss angespielt, über den der Fährmann die Seelen der Verstorben gegen einen Obolus ins Totenreich bringt. Andererseits aber bezeichnet der Fluss das stete Fließen, ja Ineinanderfließen der gesanglichen Äußerung einer Volkskultur, die gerade in einem Grenzland wie dem Burgenland über Jahrhunderte in gelebter Vielsprachigkeit gepflogen wurde. Manches von dieser Tradition lebt heute noch – manches ist für alle Zeit verschwunden.
Nicht in Vergessenheit jedoch sollte geraten, dass das Lied seit seinen antiken Wurzeln Teil der Lebensbewältigung der Menschen war. Nicht nur auf manchmal hohem lyrischen Niveau, sondern teils auch auf trivialen Selbstverständnissen beruhend, fungierte es sowohl in seiner poetischer Verdichtung als auch in seiner Funktion als Angstabwehr als wichtige Reflexionsquelle und auch als Abwechslung in einem so oder so nicht einfachen Alltag.
Die Fächerung des in dem Stück verwendeten Liedgutes, das vom Komponisten Ferry Janoska zu einem zeitgemäßen, musikalisch fulminant vorgetragenen Hörerlebnis arrangiert und von mehrheitlich aus dem Burgenland stammenden SchauspielerInnen und SängerInnen interpretiert wird, reicht von weltlichen Liedern aller im Burgenland einstmals und gegenwärtig vorhandenen Sprachgruppen (Deutsche, Kroaten, Ungarn, Juden, Hianzen, Roma) bis zu Volksballaden und geistlichen Liedern aus dem Bereich der Totenklagen.
Der Autor und Regisseur dieses mit verbindenden Texten angereicherten bühnenmusikalischen Werks, Peter Wagner, hat in monatelanger Recherche Lieder zusammengetragen, die einerseits heute noch gesungen werden, andererseits längst dem Vergessen anheimgefallen sind. Vielen wird daher manches vertraut erscheinen, viele werden aber auch staunen angesichts der Begegnung mit Melodien und poe-tischen Sprachbildern, die den Generationen vor uns noch vertraut waren, ehe sie von einem anderen Verständnis medial transportierter Gesangs- und Musikkultur verdrängt wurden.

Mitteilungen aus der Diaspora der Sprache

Der Fluss erscheint nirgendwo thematisiert und doch Zentrum bzw. zentrale Metapher des „orphischen Theater-Essays“. Es ist nicht so sehr der griechische Totenfluss Styx (an anderer Stelle auch Acheron genannt), der für uns von Interesse ist, als vielmehr der sentimental fließende Leitfaden eines Grenz- und Schwellenlandes, wie ihn das heutige Burgenland seit Jahrtausenden darstellt. Ungeachtet dessen ist das orphische Substrat, das wir zu befördern versuchen, eng mit der Flusssymbolik verbunden:
„Der Name Orpheus könnte, wenn er sich von ophruoeis = <am Flussufer> ableitet, ein Name für Phoroneus oder Kronos sein und sich auf die Erle, die <an den Ufern> des Peneios und anderer Flüsse wächst, beziehen. Der Name seines Vaters, Oiagros = <von der wilden Vogelbeere>, verweist gleichfalls darauf. Die Vogelbeere (französisch = alisier) und die Erle (spanisch = aliso) tragen den Namen der prähellenischen Flussgöttin Halys, auch Alys oder Elis, der Königin der elysischen Inseln. Dorthin kamen Phoroneus, Kronos und Orpheus nach ihrem Tode.“

Robert Ranke-Graves, Griechische Mythologie

Bei uns bleibt die orphische Metaphysik am Boden des Alltags. Es breitet sich als Erzählung in den gesungenen Äußerungen eines an strenge Normen gebundenen, nichtsdestotrotz sich poetisch hinterfragenden Volksbewusstseins aus. In diesem behalten die Dinge einen guten Rest an anschaulicher Natur, da hat die Aufklärung, möchte man meinen, keinen Niederschlag gefunden: Die Mutter hält dem herbeigeeilten Liebhaber ihrer Tochter entgegen, die Tochter liege im Keller in ihrem Blut; sie hat sich verpflichtet gefühlt, die Tochter zu erschlagen, um auf diese Weise die Schande einer außerehelichen Schwangerschaft zu sühnen – gesungen in Schachendorf noch zu Zeiten der Tonbandaufnahmen des Ethnologen Dr. Károly Gaál, also in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts!

Und doch scheint der Gesang nicht nur den Schrecken und damit die Bestätigung einer unumstößlichen Ordnung zu transportieren, sondern auch dessen latente, kathartische Überwindung: Nicht das Tabu ist die Mitteilung, sondern seine – gesangliche – Benennung. Insofern ist stets der Gesang selbst das Thema, und dieses wandelt auf der Trennlinie zwischen Leben und Tod, als Barke auf dem Fluss, dem Kreislauf des Lebens verhaftet, der in den Tod und in neues Leben führt, dem Fluidum seiner Rituale im ewigen Austausch von Werden und Vergehen unterstellt. Es findet im Lied seinen unscheinbaren und doch so kräftigen, durch die eigene Stimme quasi körperlich durchlebten Ausdruck. Uralte Bilder tauchen aus der Tradition des Gesungenen auf und werden in die hinterfragende Realität der Gegenwart übergeführt – wiederum dem Fluss der Kommunikation als manifeste Mitteilung und instinktiv gefühlte Botschaft verpflichtet. Und da scheinen die ursprünglich in Stein gemeißelten moralischen Gesetze auch plötzlich aufhebbar: An einer anderen Stelle, in einem heute noch oft gesungenen burgenlandkroatischen Volkslied, in dem die ordnende Macht der Mutter zwei Leichen hinterlassen hat – die ihrer Tochter und jene ihres Geliebten -, heißt es: „Da hast du nun, Mutter, zwei traurige Leichen, weil du nicht fröhliche Lebende wolltest!“

 

Das Alltagsritual des Singens

ist eine niemals enden wollende Erzählung über die Selbstsicht der Menschen in ihrem jeweiligen sozialen, kulturellen und religiösen Umfeld. Dieses war, als das Singen noch nicht durch die Mechanik der Musikverbreitung ersetzt war, einerseits religiös, weit mehr jedoch bäuerlich geprägt.
Besitzt diese Selbstsicht heute noch Relevanz für uns, da sich unsere Formen der Spiegelung in Radio, TV, Printmedien und Internet ereignen – nicht weniger rituell, doch völlig anders rituell?
Wir tasten die tradierten, bekannten, manchmal auch weniger bis gar nicht (mehr) bekannten Lieder in der Konfrontation mit Texten über das burgenländische Grenzland nach ihrer sowohl pragmatisch alltäglichen als auch mythologischen Substanz ab. Wir wollen dabei nicht in die Folklore der jahres- oder lebenszeitlichen Rituale abgleiten und also eine Art Heimatabend mit Liedvortrag veranstalten: Wir verstehen das Lied als den von ihm je eigen transportierten Kosmos einer Mitteilung, die Ausdruck der Gemeinschaft zur Gemeinschaft oder des einzelnen zu sich und zur Gemeinschaft hin bedeutet. In ihm spiegeln sich Drama, Selbstwert, Hoffnung, Selbstironie und Angstabwehr einer Gesellschaft wider, nicht als große Literatur oder Musik, sondern als der kleine Atem des täglichen Überlebens im Ritus des Lebens und seiner Möglichkeiten.

Die Fächerung des verwendeten Liedgutes

reicht von religiösen, mehrsprachigen Totenliedern bis zu mehrsprachig gesungenen weltlichen Volksliedern (Deutsch, Kroatisch, Ungarisch, Jiddisch, Hianzisch-Mundart, Roman) und Volksballaden sowie einigen wenigen Originalkompositionen.
Alleine die vorhandene Breite an multiethnischen, multisprachlichen und multireligiösen Aspekten eröffnet uns eine hochkomplexe Erzählsituation, wie sie an jeder Grenze – und man möchte hinzufügen: nur an der Grenze, der geografischen wie kulturellen, der bewusst gezogenen wie psychisch unbewussten – entsteht. Hier deutet uns der geografisch begrenzte Rahmen der pannonischen Provinz die Möglichkeiten eines gelebten Miteinanders an. Diese Möglichkeit ist der kosmopolitisch geprägte Fluss per se: Seine Botschaft ist nicht politischer oder ideologischer Natur, sondern ausschließlich poetischer – ungeachtet der Tatsache, dass sie an manchen Stellen genau dadurch die politische Botschaft fast wie von selbst transportiert. Insofern ist gerade die Wiederentdeckung der poetischen Botschaft eines unpoetischen Alltags der vitalste Aspekt des gesungenen Liedes und seines sentimentalen Anspruchs auf die Möglichkeiten eines in sich bewältigbaren Lebens. Unser Versuch, die Lieder eines vergangenen Lebensgefühls in eine nicht mehr singende Gegenwart zu transportieren, ist jedoch mitnichten ein nostalgischer: Wir blättern in einem Buch und sehen, wie sehr sich unser Leben im energetischen Fluss der Zeit geändert hat – ob zum Positiven oder zum Negativen, das ist nicht das Thema: Die Vergangenheit ist uns zum Museum geworden, in dem es gleichwohl einiges zu entdecken, einiges zu staunen, einiges zu erkennen gibt, um daraus Rückschlüsse auf unser gegenwärtiges Leben zu lukrieren.

Die Musik und ihr Arrangement

stellen das Gesungene in einen neuen Raum. Der Komponist und Arrangeur Ferry Janoska ist als Rom mit ungarischer Muttersprache in der Slowakei aufgewachsen und noch in kommunistischer Zeit mit seiner Familie auf abenteuerliche Weise über die Grenze nach Österreich geflüchtet. Er studierte am Konservatorium in Wien und lebt heute mit seiner Familie im Nordburgenland. Zu seiner Klientel gehören die Wiener Philharmoniker genauso wie die Wiener Sängerknaben, Niederösterreichischen Tonkünstler und heimische Popgrößen wie Reinhard Fendrich, für die er komponiert und arrangiert. Sein Violinkonzert „O drom“ wurde im Jahr 2005 anlässlich der Erinnerung an das Attentat von Oberwart, dem 1995 fünf Roma-Männer aus Oberwart zum Opfer fielen, im Offenen Haus Oberwart uraufgeführt und in Ö1 gesendet.
Janoska ist der musikalische Kosmopolit schlechthin. Sein Arrangement der zum Teil jahrhundertealten Volkslieder scheut die Begegnung mit den musikalischen Ausdrucksformen der Gegenwart nicht, im Gegenteil. Dennoch besteht sein Ehrgeiz keineswegs darin, auf ein schickes Gegenwartsdesign hinzuarbeiten, um sich dem musikalischen Zeitgeist anzubiedern, sondern mit den Mitteln von Neuarrangement und Sounds Räume auszutasten, in denen die Melodie neu erfahrbar wird. „Der Fluss“ ist nicht zuletzt auch ein musikalischer Fluss, der in seiner dramaturgischen Entwicklung in immer neue Landschaften führt und doch der eine Fluss des Werdens und Vergehens in den Etappen seiner unterschiedlichen Metamorphosen bleibt.

Untertitelung

Entscheidend für den Transport der poetischen Botschaft der in sechs Sprachen vorgetragenen Lieder erscheint uns das Verständnis der Liedtexte, wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass ihnen oft nur eine verkappte Rolle zufällt, zumal im Mittelpunkt des Rituals des Singens die Melodie und die unverhohlene Freude an ihr selbst stehen.
Dennoch werden wir die Untertitelung der Lieder mit Übersetzungen der Texte ins Deutsche als Teil der Bühnenaktion selbst verstehen: Sprache fließt also ins Bühnenbild ein und bildet einen Teil desselben, einen der zahlreichen weiteren MitspielerInnen im poetischen Fluidum der Inszenierung.