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Die Gläserne Spinne

Fantasie für Glasinstrumente und Erzähler

Text und Idee: Peter Wagner
Musik: Gerald Schönfeldinger
Uraufführung: 25.5.1999, Schloss Kittsee;
Erzähler: Peter Wagner; Glasharmonika: Christa Schönfeldinger; Verrophon: Gerald Schönfeldinger
Alle Rechte auf Text und Musik bei Autor und Komponisten.

Textauszug >>
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"Das Leben, der Segen, das Fest" >>

Persönliche Bemerkung

In einem Depot – symbolischer Ort für die Verwahrung verdrängter Leidenschaft – arbeitet Aurelia, die von den anderen Spinnen nicht nur liebevoll „Die Königin“ genannt wird, an der Vollendung ihres Netzes. Alle Arbeit, wiewohl gemeines Handwerk und Routine, gerät Arelia zur Kunst, und so ist auch ihr in der Kreuzung der Hohlkehlen hängendes Netz mehr als nur die Falle für die lebensnotwendige Beute: sie ist die Schönheit per se, in derem Widerschein sich die Strahlen der aufgehenden Sonne gefallen.

Doch diese Schönheit ist weniger ein Geschenk, als eine bleibende Gefährdung:

Eines Tages gestattet sich Aurelia, diesen ganz bestimmten Schmerz, der sie schon lange quält, sich selbst einzugestehen. Von diesem Zeitpunkt an beginnt er ein eigenmächtiges Leben in ihrem Körper und ihrer Seele zu führen. Dieser Schmerz ist eine winzig kleine gläserne Spinne, die mitten in ihrem Herzen sitzt und in dem Maß, in dem er immer frechere Ansprüche an seine Präsenz im Leben Aurelias stellt, mehr und mehr wächst. Gleichzeitig beginnen sich die Fäden ihres Netzes zu vergläsern. Schlussendlich ist das gesamte Netz ein strahlendes Konstrukt aus Glas, das bei der ersten Berührung durch eine Fliege in sich zusammenbricht. Ihr verzweifelter Kampf und ihr latenter Trotz gegen den Tyrannen in ihrem Herzen nützen nichts: er hat sie allmählich ausgefressen und nur noch die Schale von ihr zurückgelassen, wodurch sich das Prinzip der Spinnen, ihre Beute von innen auszuhölen, an ihr selbst vollzogen hat.

Doch gleichzeitig bedeutet dieses ihr Ende auch eine Wiedergeburt: eine junge kleine Spinne mit Namen Aurelia hat sich die Kreuzung der Hohlkehlen im Depot erobert und beginnt – mit dem Enthusiasmus der Unbezwingbaren – mit der Arbeit an ihrem Netz.


Textauszug

22

„Du hast mein Leben zerstört.“

Immer wieder murmelte sie diesen Satz, während sie über den stattlichen Berg aus Splittern kroch, als wollte sie zwischen den Scherben hindurch das Antlitz ihres Kindes finden, nach dem sie schon seit Stunden vergeblich suchte.

Es war eine Fliege gewesen, eine dumme kleine Fliege, die nicht bemerkt hatte, daß das Netz diesen unwahren Glanz ausstrahlte, den sonst kein Netz ausstrahlt, und ihn also mißachtete und so unbedacht, wie Unbedachtheit nur sein kann, dagegengeflogen war. Das Netz war mit einem feinen Knall in sich zerborsten, hatte sich im Bruchteil einer Sekunde in ein Nichts verwandelt und am Boden des Depots zu einem rasselnden Häuflein aus Glassplittern zusammengesammelt.

„Du hast mein Leben zerstört.“

Sie scharrte unter ihren Beinen Glassplitter zusammen, was sie konnte, aber die Splitter waren wie all das Geld, das strahlt und doch wertlos ist.

„Habe ich dir nicht alles zugestanden“, flüsterte sie, noch immer ungläubig wie am Anfang, „sogar den Platz in meinem Herzen. Heimtückisch hast du dich eingenistet und dich erst erkennbar gemacht, als ich keine Möglichkeit zur Gegenwehr mehr hatte. Ich habe dich gepflegt in mir. Und dann sogar geliebt. Du aber, du hinterhältiges Ungeheuer, du hast es vorgezogen, auf alle meine Fragen zu schweigen, mich der Illusion zu überlassen, ich könnte trotz, oder vielleicht sogar wegen aller Gefährdung, die von dir ausgeht, zu einem Anfang finden, zu einem neuen Leben gar, in dem am Ende für uns beide ein Platz sein würde, für dich, meinen angebeten, verehrten, schmerzenden Gast, und für mich, deine Trägerin, die dir alles zu geben bereit gewesen wäre - wenn du mir nur die Möglichkeit offengehalten hättest, mein Opfer von selbst zu geben, egal von welcher Größe, und wäre es am Ende ich selbst gewesen. So hast du es dir einfach genommen, ungefragt, brutal. Hier liegt mein Leben, eine zersplitterte Nichtigkeit, du hast dir mein Leben ganz einfach genommen. Du hast mich nicht nur zerstört und getötet, du hast mich aller Selbstachtung beraubt. Und du wütest weiter, verschlagen und lautlos, längst hast du mein Herz gefressen, längst spüre ich in meinem Bauch deine Spur. Und doch, mein Liebster, mein ewig Liebster, wisse, daß du mich nicht bezwingen wirst. Daß du mich niemals bezwingen wirst, weil ich das Leben ewig bin, und du, mein Tod und Mörder, immer nur mein Gast.“

Und während sie noch immer wie besinnungslos mit allen ihren Beinen die Splitter ihres Netzes zusammenscharrte, scharrte der Tod in ihrem Leib, nicht mehr lautlos, nicht mehr verschlagen, er scharrte die letzten Reste ihres Lebens zusammen und führte dieses endlich ins Nichts.