Skip to main content

mundo perdido –
ein Gebet. bzw.
Silvester am Stefansplatz

mundo perdido – ein Gebet. (Originalversion 1991) bzw.
Silvester am Stefansplatz (Bearbeitung 1999)

Manuskript. Uraufführung frei. Alle Rechte für das Stückmanuskript beim Autor.

5 Personen:
(mundo perdido): Daniel (12 Jahre alt), Traude, Vincent, Paul, Lea
(Silvester am Stefansplatz): Punzi (geistig behindert); Funzi, ihre Mutter; Blech, ein Verbrecher; Kratochwil, ein ehemaliger Richter; Lid Knar, ein Verbrechensopfer.

Textauszug >>

DER SCHAUPLATZ (Silvester am Stefansplatz)

DER SOUFFLEUR, Nr. 34/1992, Verlagsneuigkeiten: Der Hauptplatz einer neuzeitlichen Ruinenstadt.
Der Schauplatz des tropischen Regenwaldes symbolisiert lediglich den „verbotenen Ort“; sine Unerreichbarkeit für die suchenden Fragen der Menschen nach Welterklärung einerseits, seine Unangemessenheit für die Sehnsucht nach den Göttern. Jeder der Protagonisten hat seine Obsession zur Weltsicht erklärt: die Erfahrungen, das Leid, die menschliche Hybris; ihr ständiges Vordringen in verbotene Welten zieht nicht die Enträtselung des Lebens und der Welt nach sich.

Nur das Kind ist wirklich bereit, sich zu opfern. Doch selbst sein Opfertod, der die Menschen von ihrer Pein befreien soll, wird als anthropomorphes Trugbild entlarvt.

„Die Götter sind zufrieden. Ihre Gesichter sind zerstört. Sie sind gerettet! Sie haben sich abgekehrt. Sie brauchen dein Opfer nicht!“

DER SCHAUPLATZ (mundo perdido)

Es bewegt sich, und es bewegt sich nicht;
Es ist fern, und es ist nahe.

Aus den Versen der Upanishaden

Eine Lichtung inmitten des tropischen Regenwaldes. Irgendwo wächst eine leicht gekippte, übermannshohe Stele aus dem mit vermoderndem Laub bedeckten Boden.
An ihrer Vorderseite das verwitterte Relief einer reich verzierten Gestalt, deren Gesicht mit Stein- oder Eisenäxten zerstört wurde.
Vor der Stele ein ursprünglich kreisrunder, etwa 80cm hoher und 1m20cm im Durchmesser breiter Steinaltar, von einer Wurzel in zwei Teile gespalten. Auch den Altar schmücken verwitterte Reliefverzierungen.


Textauszug

14

Kratochwil: Ich werde ein höfliches Entschuldigungsschreiben verfassen.

Funzi: Nimm das.

Kratochwil: Was ist das.

Funzi: Es beruhigt.

Kratochwil (hält die Pille in der Hand, ohne sie zu schlucken): Du hast recht. Ich bin krank.

Funzi: Du hast Angst, das ist alles. Du schwitzt geradezu vor Angst. Und du stinkst.

Kratochwil: Ja, ich stinke, du hast recht. Und man erkennt die Angst an meinem Gesichtsausdruck. Ja. An meiner Haut.
Die Angst hat sie aufgedunsen. Und der Alkohol.

Funzi: Ich hätte auch Angst. Vor solch einer Verhandlung.

Kratochwil: Rede mir nichts ein. Es ist eine Verhandlung wie jede andere. Ich sitze über dem Angeklagten. Der Angeklagte sitzt unter mir.
Ich habe immer Angst.

Funzi: Hast du das Opfer gesehen.

Kratochwil: Ja. Die Nacht hat mich nicht schlafen lassen. Die Hitze. Das Surren des Ventilators.

Funzi: Erzähl. Ich las in der Zeitung davon. Man hat doch sicher maßlos übertrieben …

Kratochwil: Was ich gesehen habe, stand in keiner Zeitung. Eine Frau ohne Gesicht. Ein blutiger Klumpen an Stelle eines Gesichtes. Nichts mehr zu erkennen: keine Augen, keine Nase, kein Mund.

Funzi: Die Tat soll mit einem Stein begangen worden sein.

Kratochwil: Es ist mir unverständlich. Die Brutalität. Der Rausch.

Funzi: Du fürchtest den Augenblick, da er dir gegenübersteht. Ich sah ein Foto von ihm in der Zeitung.

Kratochwil: Wie sah er aus.

Funzi: Du kennst ihn doch.

Kratochwil: Ich will wissen, wie er auf dich gewirkt hat.

Funzi: Ein Gesicht. Ein ganz normales Gesicht. Hager, gefasst, etwas leer, wunderbar.

Kratochwil: Ein ganz normales Gesicht. Das ist es. (Hält sich den Magen.)

Funzi (gibt ihm eine weitere Pille): Für den Kreislauf.

Kratochwil: Er stellte sich selbst. Er bat, bei der Vernehmung nicht sitzen zu müssen, sondern am Fenster stehen zu dürfen. Er sprach langsam. Die fassungslosen Beamten notierten das Protokoll, ohne Zwischenfragen zu stellen. Er diktierte es, wie ein Lehrer den Schülern einen Aufsatz diktiert. Druckreif. Rekonstruierte den Tathergang minutiös. In einer Weise, dass man ihn stimmig und genau vor Augen hat, wenn man das Protokoll liest. Ich bin tatsächlich krank. Keine Ausrede. Ich muss mich schonen. Mein Herz.

Funzi: Weiter. Ich will alles wissen. Alles, was man weiß.

Kratochwil: Auf die Frage nach dem Tatmotiv antwortete er: keines.

Funzi: Anders gesagt:

Kratochwil: Sag nichts, ich will es nicht hören.

Funzi: Er hat dir diesen Mord gestohlen.

Kratochwil: Ich habe gesagt, ich will nichts hören. Schweig.

Funzi: Die Tat, die du keinem anderen überlassen wolltest als dir selbst.

Kratochwil: Ich verstehe kein Wort. Nochmals: schweig.

Funzi: Wie ist es denn, wenn wir miteinander schlafen.

Kratochwil: Wie ist es, wenn wir miteinander schlafen.

Funzi: Du hast nie mit mir geschlafen. Kein einziges Mal.

Kratochwil: Was redest du.

Funzi: Du hast mich seit jeher mit dieser Frau betrogen, dem Opfer dieses Wüstlings. Du hast es noch jedes Mal mit ihr getrieben, wenn wir miteinander schliefen.

Kratochwil: Um Himmelswillen, bewahr dir den Verstand.

Funzi: Du hast nur diese Frau geliebt. Sie war und ist die einzige Frau in deinem Leben. Das Opfer. Das reine Opfer. Das ohne Motiv getötete Wesen. Du hast es gehasst, weil du wusstest, dass du ihm nie begegnen würdest. Du wolltest diese nichtexistente Frau in dir töten. Es ist dir nicht gelungen. Es ist dir nie gelungen. Wenn wir im Bett lagen, hast du sie immer wieder zu uns ins Bett geholt. Das ging ganz automatisch. Wenn schon du nicht imstande warst, sie zu töten, dann sollte wenigstens sie imstande sein, dich zu töten. Du warst ihr ergeben. Hörig. Ihr kleiner Hund. Du schliefst mit mir, um getötet zu werden von einer anonymen unbekannten Frau. Weil du selbst nicht imstande warst, sie zu töten. Den reinen Mord zu begehen, den wunderbaren. Jetzt hat es ein anderer für dich getan. Schäm dich.

Kratochwil: Ich versuchte es, viele hunderte Male. (Er lehnt sich erschöpft zurück, Punzi hält seinen Kopf in den Armen.) Ich habe sie immer wieder getötet. Unter dem Surren des Ventilators, den stoßweisen Brisen, die meine Haut wie zögernd erreichten und nicht kühlen konnten. Meine Haut, auf der die Schweißtropfen saßen wie unbenannte Zeugen einer Täterschaft. Das ganze Bettlaken eine einzige nass durchtränkte Zeugenschaft einer Tat.

Funzi: Weiter, nicht aufhören.

Kratochwil: Ich kann nicht weiter, ich schäme mich.

Funzi: Was zählt sie, deine Scham. Jetzt zählt nur die Wahrheit. Sie sitzt über dir zu Gericht.

Kratochwil: Alleine im Hotelbett nach fünfzehn Whiskey und acht Bier. Unter dem Ventilator. Sein Schatten an der Wand, der Schatten einer Schere, die in dem Augenblick, da sie sich öffnete, zuschnappte. Eine Schere, die die Mühle des Denkens schmerzhaft in Bewegung hielt. Ein Gesicht, das ich in diese Schere legte, immer und immer, zerstörte und zerstörte, einen Körper, den ich unaufhörlich quälte und schändete, und ein Gebet: Herr, erlöse mich von dieser Qual. Bis der Herr nach Stunden Einsehen hatte und mir den Samen wie eine rotzige Gnade hinwarf auf das Laken, unter dem ich die Zeugen meiner Tat zu erdrücken versuchte, so gut es nur ging. Ich versuchte, Vulkane zu besteigen und an der Hitze ihrer Glut zu verbrennen, am Schwefel ihres Atems zu ersticken; ich versuchte, mit den Indios in den Dörfern zu leben, einzig von Maisfladen und Wasser, um Herr anderer Gedanken zu werden, um wund zu werden an den Knien von den Steinplatten in ihren Kirchen, um an ihren Gebeten teilzuhaben und zu genesen; ich versuchte, ihre Kinder zu beschützen und so wie sie das Feld zu bestellen. Es nützte alles nichts. Ich war dem Töten verfallen, ohne es je getan zu haben. Du verachtest mich, mit recht.

Funzi: Den Gefallen werde ich dir nicht tun. Nimm das.

Kratochwil (schluckt die Pille): Und jetzt.

Funzi: Jetzt gehst du hin und setzt dich über den Angeklagten. Töte ihn. Stell dich der Meute, die von dir ein klares Urteil verlangt.

Kratochwil: Es ist bald achtzehn Uhr.

Funzi: Man wird kein Verständnis haben für einen Richter, der zu spät kommt. Weil er Angst hat.

Kratochwil: Ich lege das Amt wegen Befangenheit zurück.

Funzi: Lächerlich.

Kratochwil: Er ist der Stärkere, ich werde ihm nicht gewachsen sein.

Funzi: Er ist der Stärkere, zweifelsohne. Aber du brauchst dich nicht zu zeigen. Tu, was der Stärkere vom Schwächeren erwartet: Geh hin und sprich dein Urteil über ihn. Ihn, den kein Urteil mehr einholen kann. Der erhaben ist durch die Tat.

Kratochwil (sinkt nocheinmal ein): Ich kann nicht.

Funzi: Tu es mir zuliebe, Kratochwil.

Kratochwil: Solltest nicht auch du mir etwas erklären. Damit die Rechnung stimmt.

Funzi: Ich brauche diesen Menschen, deinen Angeklagten. Aber ich brauche ihn nicht nur so. Ich brauche ihn hinter Gittern. Hinter dem Raster seiner Erhabenheit. Er muss die Sehnsucht sein, die immer währende unerfüllbare Sehnsucht.

Kratochwil: Du hast, als du zwischen den meterhohen sakralen Brettwurzeln vor mir knietest, nicht meinen Penis in der Hand gehalten, sondern seinen.

Funzi: Ja.

Kratochwil: Du hast, als du von ihm getrunken hast, nicht von meinem Penis getrunken, sondern von seinem.

Funzi: Ich ließ meine Haut aufspringen. Für ihn. An hundert Stellen. Und er legte sein Fleisch in meines, stieß in hundert Wunden und ließ jede einzelne brennen, lichterloh, bis ich all den Schmerz spürte, den ich mit keinem anderen Mann gespürt hatte, Kratochwil. Die Sehnsucht ist das einzige, was uns geblieben ist. Zweifelst du noch immer daran, dass du jetzt gehen musst. Verurteile ihn. Wir beide brauchen ihn, jeder auf seine Weise. Gib ihm, was er erwartet und wir beide brauchen.

Kratochwil (erhebt sich): Wir lieben immer nur Phantome.          

Funzi: Aber bitte.           

Punzi: Ich gehe mit, Mama.

Funzi: Es ist zu gefährlich. Die Patrouillen könnten euch verwechseln und auf euch schießen. Bleib hier.

Punzi: Nein. Ich will mit Vater gehen.

Kratochwil: Lass sie, ich werde sie brauchen. Auf Kinder wird nicht geschossen, das haben sie uns versprochen.

Funzi: Heb den Kopf, Kratochwil.          

Kratochwil: Du erinnerst dich meines Namens.

Funzi: Wir können nicht mehr zurück.

(Kratochwil und Punzi gehen ab. Funzi beginnt sich zu schminken. Sie ist nun eine deutlich andere. Würde und Verschlossenheit, beides bereit aufzubrechen, bündeln sich in ihren Bewegungen. Sie ist erwachsen und eine Frau. Sie trägt die Schönheit derer, die um das Verlorene wissen.)

(Blech trägt Lidi Knar auf den Armen. Sie lässt Kopf und Extremitäten hängen. Blech ist völlig erschöpft. Legt Lidi Knar auf den Boden.)

Funzi: Was haben Sie mit ihr gemacht.

Blech: Ich … gemacht … habe ich etwas mit ihr gemacht.

Funzi: Erzählen Sie mir alles. Sie wollten sie umbringen.

Blech: Umbringen, ich. (Funzi nimmt Lidi Knar in die Arme.) Sie lag abseits des Weges. Im Gebüsch. Ich habe sie rausgezerrt und versucht, sie wiederzubeleben. Ich habe ihre Lippen berührt, mit den Fingern. Ich habe sie an mein Herz gedrückt. Ich habe sie geschüttelt, um sie wiederzubeleben. Ich habe meine Tränen auf ihren Wangen verschmiert. Sie sagte stets nur etwas von einem Tier.

Funzi: Sie haben diese Frau misshandelt.

Blech (ungläubig): Misshandelt.

Funzi: Sie haben sie missbraucht.

Blech: ... Missbraucht ...          

Funzi: Sagen Sie ja. Setzen Sie den Glanz, der Sie umgibt, nicht aufs Spiel. Tun Sie es für mich, nur für mich, bitte.          

Blech: Misshandelt. Missbraucht. Das kann nicht ich gewesen sein. (Völlig indisponiert.) Ich kann mich nicht erinnern.

Funzi: Aber Sie haben es getan. Das genügt mir.