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Wenn wir einmal Engel sind
Fantasie für 4 Scanner und 1 Objekt

Stück von Peter Wagner

Steirischer Landesjugendliteraturpreis 2000
Ehrenliste Österreichischer Kinder- und Jugendliteraturpreis 2004

Uraufführung: 10. Oktober 2002, Jazz Pub Wiesen; Produktion: Theater Am Ort im Offenen Haus Oberwart
Weitere Vorstellungen im Offenen Haus Oberwart, Nachtschicht Graz, Nachtschicht Wien
Mit Christoph F. Krutzler und Dagmar Müller; Licht: Alfred Masal
Regie: Peter Wagner

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Text zu Peter Wagners Stück

"Wenn wir einmal Engel sind"
anlässlich der Verleihung
des Steirischen Landesjugendliteraturpreises 2000
am 21. Juni 2000 im Theater am Ortweinplatz

Manfred Weissensteiner: Sonderpreis Jugendtheater? Jugendtheater? Ist das eine eigene Sparte? Gibt es eine spezielle Form? Thematik? Ästhetik? Womit soll und darf man junge Menschen konfrontieren? Inwieweit muss es den gängigen fernsehgewohnten Sehgewohnheiten entsprechen? Wer von den Jugendlichen geht denn eigentlich ins Theater, wenn ihnen nicht bildungsbewusste LehrerInnen diese Bildungsaufgabe stellen?

Welche Relevanz hat dann überhaupt ein Sonderpreis für ein Jugendtheaterstück? Und kann das Siegerstück all die oben gestellten Fragen befriedigend beantworten?

Entschuldigen Sie, das wär zuviel verlangt. Und dennoch eignet sich Peter Wagners Stück sehr gut , die Fragen - nicht zu beantworten - aber zu erörtern.

In der Zeitung steht: "Die Lehrerin Annemarie K. wurde von einem ihrer Schüler erschossen, weil sie fünf Mädchen schützen wollte. Helmut Z. (15) hatte einem der Mädchen bereits den geladenen Revolver an die Schläfe gehalten."

Die Journaille stürzt sich auf solche stories. Hintergrundberichte befriedigen unsere Empörung und unser fassungsloses Entsetzen über die Verrohung der Jugend. Die Hemmschwellen fallen. Hüben wie drüben. Spätestens wenn bei "Vera" Betroffene betroffen machen.

So und aus der Zeitungsmeldung jetzt ein Stück machen. Was kann das werden? Ein Sozialdrama? Ein Actionthriller? Ein spekulatives Psychodrama?

"Wenn wir einmal Engel sind" ist ein seismologischer Monolog, in dem Gehirn-, Körper- und Gefühlsbeben nachgespürt werden. Ohne Sentiment wird eine mögliche Biografie seziert, zerstückelt und wieder zusammengesetzt. Ein Monolog, der in seiner sprachlichen Form, in seinem dramaturgischen Aufbau und seinen szenischen Anweisungen immer auch dem Anlass angemessen erscheint und daher sich auf mehreren Ebenen mitteilt. - Aber ein Monolog.

Ich mache für und mit Jugendlichen Theater. Meistens heisst es, keine längeren Monologe, da kann keiner zuhören, das wird Literatur, keine Abwechslung, "urfad".

Und trotzdem glaub ich an diesen Monolog. Weil er gefangen nimmt auf mehreren Ebenen. Weil da einer spricht, der nie gesprochen hat, ein Fisch wie bei Horváth, aber nicht glatt und blutleer sondern ein aufgebrochenes und blutverschmiertes Objekt, das Sätze rausschießt, die einem ins Gesicht geschleudert werden, oder die Brust zerfetzen sollen und den Bauch, Sätze in ihrer Drastik immer adäquat der Tat.

Die Zerstückelung in Form und Inhalt. Die Lichtkegel der Scanner, die Dreiwortsätze, die Aufzählung der Waffentypen, die Stumpfheit des Vaters, die Krankheit der Mutter, die Unnahbarkeit der MitschülerInnen, der Lehrerin, die akribischen Selbstbeobachtungen des Objekts, die Beschimpfung aller, all dies ergibt in seiner Zerrissenheit eine fast logisch konsequente Vorbereitung zur Tat.

"Wenn wir einmal Engel sind" ist ein außergewöhnlicher Jugendtheatertext. Er nimmt sich zwar einer fürs Jugendtheater durchaus gängigen Thematik an: GEWALT, findet jedoch eine ungewöhnliche theatralische Übersetzung, die weit über übliche emanzipatorische und damit pädagogische Jugendstücke hinausreicht.
Ausser der Norm steht der "jugendliche Antiheld" durch seine Tat, die Schleusen öffnet und einen Monolog gebiert, der sich auch durch seine literarische Qualität ins Hirn des Lesers und hoffentlich bald auch Zusehers hineinschraubt, sowie sich die Gedanken, Gefühle und Verletzungen in den sprachlosen Täter hineindrängten und uns und ihn nicht loslassen.

Zum Anfang: Wie ist das mit dem Jugendtheater? Die Zeit der Roten Grütze Stücke ist vorbei. Treffen nicht mehr. Schon eher die neuen Stücke der wilden Engländer. Stücke, die nicht als Jugendstücke daherkommen, die nicht mit dem Erwachsenenverbotsschild belegt sind. Stücke, die neben der thematischen Aktualität auch ästhetisch, literarisch Stellung beziehen, um den Nerv treffen zu können. Und da darf man nicht vereinfachen, sondern muss herausfordern.

Peter Wagner ist ein außergewöhnliches Jugendstück gelungen , weil er in seinem Text einen jungen Menschen so ernst nimmt, dass er nichts verschweigt, Kompliziertes nicht vereinfacht und nicht so tut, als ob er Antworten oder gar Lösungen parat hätte. Gratulation!

Pressestimme

Viktoria Erdélyi, KURIER: Ein Stück, das unter die Haut geht
Und dann ging das Licht aus. Und falls es möglich ist, Stille zu steigern, so hatte diese im Publikum zum Ende des Stückes ihren Höhepunkt erreicht. Niemand wagte zu klatschen oder gar sich zu räuspern. Erst als das Licht in der Disko Jazz Pub Wiesen wieder anging und Christoph F. Krutzler vor die Zuschauer trat, brach tosender Applaus los.

Es war Donnerstagabend und die Uraufführung - eine OHO-Produktion, die der KURIER unterstützt - von Peter Wagners Werk "Wenn wir einmal Engel sind". Eine Aufführung, die ohne Zweifel bei jedem Zuschauer tief unter die Haut drang. Und Wagner hatte Recht, als er meinte, er wird die Sternstunde eines Schauspielers erleben: Der 24-jährige Kemetner Christoph F. Krutzler spielte den eineinhalbstündigen Monolog so packend, dass in den Köpfen ein Film zu laufen begann. "Ich sah die Schule vor mir, die Lehrerin, seine Mitschüler …", äußerte sich eine zutiefst ergriffene Besucherin.

Es war das Attentat 1997 in Zöbern, das Wagner bewegte, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Ein 15-Jähriger erschoss damals seine Lehrerin. "Wenn wir einmal Engel sind" enthält Fragmente dieses schrecklichen Ereignisses. Doch Wagner dokumentiert nicht einfach, er blickt hinter die Fassade. Brockenweise erhält man einen Einblick in die Welt eines Jugendlichen, der mit dieser nicht klar kommt.

KEIN URTEIL Der Autor sucht nicht nach Schuldigen, nimmt aber auch niemandem Schuld ab, er urteilt nicht. Es ist ein Monolog eines jungen "Täters", der zurückblickt. Ein Text, den der Autor selbst genial in Szene setzt. Als Bühne dient ein Podest, mit einem hauchdünnen Vorhang umgeben. Ein "Netzkäfig", der durch Alfred Masals farbenprächtige und effektvolle Kompositionen beleuchtet wird. Hinzu kommt die außergewöhnliche Rolle Dagmar Müllers, die mittels Kamera ergreifende Momente durch Projektionen zusätzlich verstärkt.


Textauszug

(Die Scannerstrahlen beginnen abermals langsam zu kreisen.)

Da ist sie schon wieder, die Sau. 265 km/h maximale Geschwindigkeit, 4115 Meter Schwebeflughöhe im Bodeneffekt, 2990 ohne Bodeneffekt. Einsatzdauer 3 Stunden. Reichweite 407 Kilometer. (Er atmet schwer.) Elias. Die Därm. Hängen bestimmt schon runter bis zum Boden. (Spuckt angewidert aus.) Pfui Teufel. Daßd da die ganze Scheiße in die Händ haltst, wennsd deine Därm in die Händ haltst. Dem Langen hängt die Scheiße aus dem Bauch. Die Drecksau hat sich nicht zurückhalten können! In der ganzen Schul erzähln sies, die Babsi, die Flora, die Hedi. Verziehts nur das Gesicht! Ist mir doch wurscht! Dem Langen ist immer alles wurscht. Deshalb redt er nix mit euch, habts ihrs noch immer nicht kapiert! Drehts euch nur weg! Ausrutschen sollts auf die glitschigen Därm! So lang bis die Därm aufgsprungen sind! Überall nur noch die Scheiße herumpickt! Die Scheiße vom Langen! Solln von oben bis unten mit meiner Scheiße angschmiert sein, daß sich ihre Haberer anspeiben, wenns mit ihnen schmusen wollen. Haben nix besseres verdient, die geilen Nutten! Krepieren sollts in meine Därm, Nutten! Der Lange ist halt kein Typ zum Schmusen. Der Lange gibt sich nicht ab mit sowas. Der laßt lieber gleich die Sau raus. Das habts mir nicht zutraut? Das habts jetzt davon!

(Völlige Finsternis.)

Elias? Fürchten, ich? Fürchten vor was? Wenns finster ist, ist nix so schlimm, wie wennst was siehst. Von mir aus braucht es überhaupt kein Licht geben. Von mir aus könnt ich ganz im Finstern leben. Singt laut. „frag mich besser nicht, sonst muß ich lügen, ja ich habe sie entweiht, und es war mir ein vergnügen.“ (Die Frau im Hintergrund blättert geräuschvoll um. Das Geräusch wiederholt sich in einem langen Delay.)

(Alle vorhandenen Lichtquellen strahlen ein breitgestreutes, sattes Cyan aus, das die Konturen des Objektes leicht zum Verschwimmen bringt. Der Raum erscheint auf diese Weise wie ein Aquarium.)

(Der Körper des Objektes zieht sich reflexartig zusammen.) Die Händ. Abstorben. Super. Die kann ich weghaun. (Das Objekt unternimmt eine große Anstrengung, die Arme in der Zwangsjacke zu bewegen. Läßt ab davon. Atmet schwer.) Die gschissene Jacken, die ihm der Vatter und die Mama zu Weihnachten kauft haben. Wie der jetzt dasitzen muß auf dem Sessel und sich nicht bewegen kann. Und sich selber festhalten muß. Damit er sich selbst nicht davonlaufen kann. (Das Objekt vollzieht langsame, rhythmische Kreisungen mit dem Oberkörper. Summt ganz fein dazu.) Halt dich nur fest, Bankerter. Bist dein eigener Papa. Bist deine eigene Mama. (Singt ausbrechend laut, stampft mit dem ganzen Körper dazu.) „ich liess ihre lippen bluten, ich nahm ihr den verstand, ich hörte dich zwar rufen, doch der teufel gab mir seine hand.“ (Lautstarkes Umblättern der Frau im Hintergrund, fast klingt es wie das Zufallen einer in einem großen leeren Raum. Das Objekt hält still.) Das Zimmer mit die weißen Kacheln! Elias, grad hab ichs vor die Augen. Ein großes Zimmer. Die Kacheln so kalt, daß die Tränen runterrinnen. Dreckige Spuren. Du kriegst keine Luft. Die ganze Luft weggnommen. Vom Alleinsein. Liegst auf dem Rücken. Willst die Arm und die Beine bewegen. Willst strampeln. Geht nix. Als wärst immer schon so daglegn, ganz allein. Ein Käfer am Rücken, der sich nicht bewegen kann. Summt zart. Käfer, Käfer, kleiner Wurm, kleiner Wurm, kleiner Wurm ... (Hält inne. Blickt auf.) Wo bist denn da überhaupt? Liegst ja gar nicht. Sitzt. (Sieht sich um.) Das täuscht. Vielleicht. Vielleicht liegst doch auf dem Rücken und kannst dich nicht bewegen. (Das Objekt schließt die Augen und kreist mit dem Oberkörper. Summt.) Liegst da und möchst, daß jemand kommt. (Singt wie vorher.) „wir hams getan, wie man es tut, im stehen und im liegen, und wenn wir einmal engel sind, dann fick ich dich im fliegen.“ Daß jemand eine Tür aufmacht. Daßd nicht so allein in dem Bett liegst. Ist dir ja eh wurscht. Schreist halt nur so die ganze Zeit. Weils lustig ist, das Schrein. Daß die Zeit vergeht. Bist schon ganz heiser vom Schrein. Brüllst, als tätens dich abstechen. Brüllen ist lustig. Därm raushängen lassen. Ist auch lustig. Ist dir ja wurscht, das Alleinseins. Sticht halt ab und zu, das Viech. Na und? (Das Objekt hält inne. Sperrt die Augen weit auf.) Das Licht, das sticht so. Ein Wahnsinn das Licht. Die weiße Kachelwand. Sechs Monat warst alt, hat die Oma gsagt. Wiest im Spital glegen bin. Wegen dem Stoffwechsel. Hast nicht Scheißen können, was? Das wird sich jetzt ändern. Wo dir die Därm raushängen. (Das Objekt zerrt an der Zwangsjacke. Schnauft.) Daß ich mich jetzt dran erinner. Die weißen Kacheln. Blödsinn, was? Wer sollte sich denn schon dran erinnern, was mit einem war, wie er sechs Monate alt war. Der Mensch ist ja keine Festplatten, auf der alles gspeichert ist. Laß es bleiben, brauchst nicht hinklicken, wills eh nicht wissen. (Brüllt.) Ich zerdrisch dir die Maus, hab ich nicht gsagt, ich wills nicht wissen! (Atmet schwer. Hält den Atem an. Lauscht. Springt plötzlich auf.) Fisch du hältst den Atem an. Wo hab ich das glesen, verdammt! Warum tust das, wennst eh schon keine Luft kriegst! Fische brauchen keine Luft. Die holen sich die Luft aus dem Wasser. Genau. Ich hol mir die Luft aus dem Wasser, Elias. Der Lange braucht keine Luft. Der lebt auch so. (Setzt sich.) Nur weiße Kacheln. Elias, dreh das Licht ab, ich erstick in dem Licht! Elias! (Atmet schwer.) Wie ein Viech, das auf dir sitzt und dir die Krallen in die Brust und in die Gurgel und ins Hirn drückt. Aber nicht wegen der Luft. Wegen dem Licht! Und die Kacheln. Und niemand da. Nur der kleine Wurm, der liegt in seinem Gitterbett. Dort habens ihn liegen lassen. (Singt.) „du warst die süsseste versuchung, mein fleisch war schwach, ich war einsam und du schneller, also ham wir es gemacht.“

(Implosion des Lichts. Völlige Finsternis.)

(Ein winzig kleiner, kaum wahrnehmbarer Strich, von Scanner 1 geschickt, rotiert langsam auf dem Kopf des Objektes, sodaß Stirn und Nase von Zeit zu Zeit kurz beleuchtet werden.)